Zur Kenntnis der eigenen Religion lädt Karl-Josef Kuschel weltweit die Menschen ein, um „gegen Hetzer in den eigenen Reihen prophetisch zu protestieren.“ Am Freitag plädierte der 69-jährige Theologe in der evangelischen Stadtkirche Schorndorf dafür, das friedensstiftende Potential der Religionen in einer globalisierten Welt zu nutzen. Denn im Dialog staune man, wie wenig man über die andere Religion weiß und wie viele Gemeinsamkeiten man hat.
Vor mehr als 200 Zuhörern zog der Referent, der 1977 bei Hans Küng und Walter Jens promoviert hatte, eine nüchterne Bilanz: „Wer heute in Mitteleuropa noch glaubt, steht unter Rechtfertigungszwang.“ Im Weltmaßstab dagegen sei Religion so präsent, dass ohne sie gesellschaftliche Entwicklungen nicht verstehbar seien. Nachdem die Ost-West-Polarität weggebrochen sei, habe der Blick auf Religion und Ethnie deren Platz eingenommen.
Die Folge: Religion mutiere in der Globalisierung nicht zum Einheitsfraß, sondern schärfe ihr Profil zur Abgrenzung und gebe den Menschen Halt und Orientierung. In Afrika sei der Anteil der Christen binnen 40 Jahren von 25 auf 46 Prozent gestiegen; die Zahl der Muslime habe sich von 200 Millionen um 1900 auf aktuell 1,5 Milliarden erhöht und China sei heute tief vom Konfuzianismus geprägt und auch das Christentum sei dort bald stärker als in Europa.
Aber, so Kuschel, der bis 2013 in Tübingen an der katholischen Fakultät lehrte und noch immer Mitglied im Beirat der Stiftung Weltethos ist: Die Gewalt im Namen Gottes nimmt weltweit in fast allen Religionen zu und Gemäßigte werden von Fanatikern in den eigenen Reihen getötet. „Dabei lehren alle Religionen den Frieden“, sagt Kuschel. Das Problem seien einseitige, unwissenschaftliche Deutungen, die nicht den Kontext berücksichtigten und deshalb zur Gewalt gegen Andersgläubige aufrufen.
Doch auch Religionslosigkeit sei kein Garant für Frieden, wie die Geschichte des Atheismus von Robespierre in der französischen Revolution bis zu Stalin oder Mao im Kommunismus des 20. Jahrhunderts zeige. „Wir brauchen Strategien der Selbstreinigung, die zum Humanismus befähigen“, zeigte der Theologe einen Weg auf, was Religion leisten können müsse. Weltweit verbinde die Menschen die Sehnsucht nach Frieden und Partizipation. Und kein Islamist sei als Terrorist geboren worden, weshalb es die Strukturen zu betrachten gelte.
Kuschels Antwort: Weltweite Kooperation der Religionen, um Gewalt zu verhindern. Und religiöse Spezifika nicht als Regulativ, sondern Korrektiv. Deshalb bedürfe es wechselseitiger Grundkenntnisse aller Religionen, auch wenn man selbst nicht glaube. Auch persönlicher Austausch sei wichtig, um konkret zu werden. Der Appell des großen Ökumenikers: Gemeinsam weltweit öffentliche Zeichen des Friedens setzen.
Papst Franziskus habe das an Pfingsten 2014 getan als muslimische Mullahs und jüdische Rabbiner in ihren Gewändern im Vatikan mit dem Papst für den Frieden beteten. Und diesen September habe es in Münster und Osnabrück ein Weltfriedenstreffen mit 5000 Teilnehmern gegeben. „Es wäre schön, auch darüber würden die Medien mehr berichten, denn Friedensinitiativen gibt es viele – und der kleinste Gebetstreff ist für die spirituelle Erneuerung wichtig,“ so Kuschel.
Lang anhaltender Schlussapplaus nach einer Stunde Vortrag belegte, dass der Referent den überwiegend ältere Besuchern aus dem Herzen gesprochen hatte. Auf Einladung von Pfarrerin Dorothee Eisrich war der vielfache Buchautor nach 2016 bereits zum zweiten Mal zu Gast. Katholiken fühlten sich aber offenbar kaum von dem Vortrag angesprochen, was zeigt, wie weit der Weg ist, den Kuschel uns zu gehen aufzeigt.
Lieber Leo,
danke für die Zusammenfassung dieses sicher sehr spannenden Vortrages, zu dem ich leider nicht kommen konnte. Denker wie er und ein offener Blick auf die Kraft, die Religionen auch im Sinne von Friedensstiftung und begleitender Hand in einer mehr als feindlichen Umwelt liefern können, sind immens wichtig. In diesem Sinn ein Weiter-So! Viele Grüße, Peter