Meine Eltern heiraten am 20. Oktober 1944 in Neckarsulm unter kärglichsten Bedingungen.

Wer mich kennt, weiß um das kritische Verhältnis zu meiner vor zehn Jahren gestorbenen Mutter. Und doch kommt sie mir aktuell angesichts des AfD-Hypes und der aktuellen Demos seit Jahresbeginn gegen das Wiedererstarken der Rechten und deren Verharmlosung der Nazi-Zeit fast täglich in den Sinn. Bei der Machtergreifung Adolf Hitlers 1933 war meine Mutter zwölf Jahre alt und schwärmte für das Selbstbewußtsein der Uniformierten Nationalsozialisten und deren „schneidiges Auftreten“, wie sie immer wieder erzählte. Gegen den Willen ihrer Eltern, die ich leider nie kennenlernte, weil sie bereits in den 1950er-Jahren starben, trat sie in die NS-Organisation Bund deutscher Mädchen (BdM) ein und war in meiner Heimatstadt Neckarsulm 1938 sogar „Maienkönigin“ beim Festumzug.

Als sich aber in den 1960er- und 1970er-Jahren viele Angehörige ihrer Generation angesichts der Kriegsverbrecherprozesse damit herausreden wollten, von den Nazi-Gräueln habe man selbst doch nichts gewusst, war meine Mutter stets die „Spaßbremse“, die mutig ihren früheren Klassenkameraden und Jahrgangsgenossen wiedersprach. Als Kind und Jugendlicher war ich immer wieder dabei, wenn die Erwachsenen auf das Thema „Drittes Reich“ kamen und meine Mutter dann intervenierte, man habe doch sehr wohl gewusst, wo in der Nachbarschaft Juden gewohnt hatten, die plötzlich verschwunden waren. Oder Kommunisten, die im Morgengrauen abgeholt wurden, für Wochen oder Monate in Umerziehungslagern verschwanden und teils sichtlich gezeichnet zurückkehrten, um dann bis Kriegsende den Mund nicht mehr aufzumachen.

Mehr noch: Meine Mutter erzählte, wie gefährlich es für meine Oma war, den Hitler-Gruß konsequent nicht zu zeigen oder am Gartenzaun mit der Nachbarin darüber zu sprechen, „dass der Hitler unser schönes Deutschland in Schutt und Asche legt.“ Auch erzählte meine Mutter, wie die Oma Anna heimlich Kartoffelschalen zum Bahnhof brachte, wenn dort über Nacht Viehwaggons gefüllt mit Juden und anderen Deportierten auf der Durchfahrt standen. Und wer sich dann noch unwissend stellte, dem nannte meine Mutter Klassenkameraden, die in Auschwitz, Buchenwald oder Theresienstadt in Konzentrationslagern arbeiteten und im Heimaturlaub ihr ganz vertraulich berichteten, was sie dort „arbeiteten“, sahen und erlebten, weil sie es teils selbst kaum aushielten. Darunter, so meine Mutter, waren Einzelkinder oder einzige Söhne aus linientreuen Familien, die arrangiert hatten, dass der Sohn nicht an die Front muss, sondern im KZ „dient“, damit er nicht sein Leben riskiere.

Meine Mutter hat nach 1945 nichts beschönigt, was seit 1933 in Deutschland geschehen war.

Dagegen waren mein Vater aus dem katholischen Eichsfeld in Thüringen, der 1943 meine Mutter kennenlernte und im Oktober 1944 heiratete, fünf Bauernsöhne, die alle Kriegsdienst leisteten; mein Vater (Jg. 1919) die kompletten sechs Jahre zunächst beim Überfall auf Polen, dann in Frankreich als Besatzer, auf dem Balkanfeldzug und auch dort als Besatzer im ungleichen Kampf gegen Partisanen und schließlich in Rußland bis die Front am Ende in Schleswig-Holstein verlief, wo er in kanadische Gefangenschaft kam. Obwohl er 1938 bei Augustinern Abitur gemacht hatte, weil er Mönch werden sollte, verweigerte er in der Wehrmacht alle Versuche, ihn zum Offizier zu machen, was vermutlich weniger gefährlich gewesen wäre, weil er den Angriffskrieg und die Nazi-Ideologie für falsch hielt.

Als Erzieherin der Stadt Heilbronn erlebte meine Mutter übrigens am 4. Dezember 1944 den Fliegerangriff der Royal Air Force, der 62 Prozent der Stadt binnen Stunden zerstörte, in der Kätchenstadt mit. Die Stadt habe in der Nacht so lichterloh gebrannt, dass man das Feuer bis in Würzburg sejen konnte, hieß es später. Und als meine Mutter, die in der Bahnhofsunterführung überlebte, danach half, die 6500 Leichen aus Schutt und Trümmern zu bergen, sei sie von SS-Leuten aufgefordert worden, mitzukommen. Die hätten in einem komfortablen Bunker bei Champagner, Glühwein, Christstollen und Gebäck im Warmen gefeiert, während draußen das Volk verreckte, erfror und verhungerte. Man habe versucht, sie betrunken zu machen, um sich an ihr zu vergehen. So viel zu Anstand und Moral der Rechten, die diese so gerne im Munde führen!

Und ein Letztes: Wenn angesichts der Fakten die Freunde meiner Mutter nicht mehr widersprechen konnten, erzählten sie, wie britische Tiefflieger mit ihren Maschinengewehren ganze Schlangen hungernder Menschen in deutschen Städten niedermähten, die gegen Kriegsende bei Suppenküchen anstanden. Damit wollten sie relativieren, dass auch die Allierten Kriegsverbrechen begingen. Und dann kontere meine Mutter, das einstige BdM-Mädchen, das erwachsen und ehrlich geworden war: „Aber Hannelore (oder Marianne oder Erika….), dass die uns gehasst haben nach allem, was wir der Welt angetan hatten und immer noch nicht kapitulierten, war doch verständlich.“ So habe das deutsche Volk geerntet, was es gesät habe. Für diese Klarheit ehre ich meine Mutter noch heute. Ich bin dankbar, dass ihr die AfD erspart geblieben ist.

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