Mit einer Mischung aus Wut und Trauer nehme ich nahezu täglich die Verflachung und Verblödung des deutschen Journalismus wahr. Ein aktuelles Beispiel unter der heutigen Headline im Wirtschaftsteil der „Stuttgarter Zeitung“, wo es heißt „Handel erleidet größten Umsatzeinbruch seit 1994,“ möchte ich hier ausführen.
Als Konsum-kritischer Umweltschützer, der mich diese Nachricht freut, begann ich die dpa-Meldung aus meiner Perspektive zu lesen. In der Meldung wurden dagegen sämtliche Fakten, zum Beispiel ein Umsatzrückgang von 8,8 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat, aus der Perspektive des Handels kommentierend referiert.
Da war schon im ersten Satz von einem „eisigen Konsumklima“ die Rede, das man auch als „umweltschonendes“ Klima hätte benennen können, wenn man überhaupt Fakten subjektiv einfärben möchte. In meiner Ausbildung zum Redakteur 1991/92 bei einer vermeintlichen „Provinzzeitung“ war Subjektivität bei Nachrichten jedenfalls verboten, weil unprofessionell.
In der dpa-Meldung, das Kürzel steht für Deutsche Presse Agentur, die 1991/92 bei uns als Leuchtturm des faktenbasierten Nachrichtenjournalismus galt, geht es aber Schlag auf Schlag mit dem Bedauern des Autors weiter. Da bleibt auch der Online-Handel vom Rückgang „nicht verschont“, eine „Besserung“ ist nicht in Sicht und die Fakten werden als „dramatisch“ publiziert – ohne zu spezifizieren für wen.
Denn für die überquellenden Müllberge ist die Nachricht, dass weniger gekauft und konsumiert wird, ebenso positiv, wie für die Material- und Ressourcenbestände des Planeten, denkt man nur daran, dass vor wenigen Tagen u.a. dieselbe Zeitung – mit ähnlich dramatisierendem Vokabular – darüber berichtete, dass zu dem Zeitpunkt bereits sämtliche Ressourcen der Natur für 2022 verbraucht waren, die die Erde in der Lage ist, im selben Zeitraum zu reproduzieren.
Ja, wenn schon die Medien so inkompetent, unreflektiert und manipulierend agieren, wie soll dann das Gros von Lesern und Bürgern, die eben nicht so tief sinnieren, Orientierung bekommen für ihr Handeln und über den Zustand der Welt? Warum bedauern dpa und „Stuttgarter Zeitung“, wenn die Menschen nicht mehr auf die Manipulation der Werbung hereinfallen und jeden Scheiß kaufen, den man ihnen als Verheißung auf ein besseres Leben verspricht? Zudem braucht niemand das 17. Paar Schuhe oder das 23. T-Shirt – und zu fett vom vielen Fressen, Saufen, Herumsitzen und Autofahren sind auch die meisten von uns.
Warum werden die Fakten eines sachlichen Berichts nicht von einem als Meinungsbeitrag gekennzeichneten Kommentar eines Autors flankiert, der danebensteht? Der dürfte dann ja texten, dass ihn der Konsumrückgang sorgt, dass er um Jobs im Handel, in der Logistik und in der Konsumgüterproduktion fürchtet. Und weil deren Hersteller wiederum Anzeigen schalten in Zeitungen, dürfte er auch schreiben, dass er letztlich Angst um seinen eigenen Arbeitsplatz hat. Zumal sein Verlag (SWMH) aktuell ja massiv Stellen abbaut.
Mich dagegen freut, wenn es dem Handel schlecht geht, der Fleischkonsum rückläufig ist u.v.m. Mich freut auch, wenn es der Automobilbranche schlecht geht. Denn das heißt, dass weniger Ressourcen vergeudet werden, weniger Baumwoll-Monokulturen weltweit die Biodiversität zerstören u.v.m. Mich lässt das Schicksal der betroffenen Arbeiter und Verkäuferinnen nicht kalt. Deren Zukunft sehe ich aber nicht im „weiter so!“, sondern in der Produktion von PV-Modulen, Windkraftanlagen, Energiespeichersystemen, Wasserstoff-basierten Lokomotiven, dem Ausbau des Schienenverkehrs und generell des ÖPNV und vielen, vielen weiteren Jobs, z.B. in der Kinder-, Senioren-, Behinderten-, Flüchtlingsbetreuung etc.
Auch könnten sämtliche Fitnessstudios schließen (und dort Wohnraum geschaffen werden) und wir Bürger würden in der Landwirtschaft unsere Muskulatur trainieren, wo wir Gemeinschaft und Körperertüchtigung erleben würden und jede Menge Pestizide und andere Chemikalien ersetzen würden, weil wir z.B. „Unkraut“ von Hand zupfen würden u.v.m. Die vielen bisherigen Komasäufer am Ballermann könnten nach getaner Arbeit im Weinberg in Gemeinschaft in der Abendsonne beim Vesper sitzen und sich das eine oder andere Viertele (zu viel) gönnen. Flugreisen würde ich generell verbieten oder so verteuern, dass nur noch ganz Reiche „abheben“.
Mit dem Personal vom Flughafen und der Security, das dann frei wird, hätten wir noch mehr Personal für soziale Arbeit, Erhalt unserer Kulturlandschaft (z.B. Bekämpfung des Borkenkäfers) oder Ausbau der Schienen-Infrastruktur. Die psychische Gesundheit und das Suchtverhalten vieler Mitbürger würden sich auch verbessern, weil sie sinnvolle Aufgaben als Teil einer Gemeinschaft erfüllen würden.
Ach, den Gag muss ich noch nachtragen: Sechs Seiten weiter in der heutigen Ausgabe der „Stuttgarter Zeitung“ folgt die Headline „Könnte das Ende der Menschheit drohen?“ Abgesehen davon, dass ich auch hierzu im Volontariat 1991/92 gelernt habe, dass man in der Zeitung keine Fragen stellt, sondern Antworten gibt, müsste die durch Fakten im folgenden Text gedeckte Überschrift lauten: „Das Ende der Menschheit droht“. Aber das war dem Blattmacher vermutlich zu realistisch.
So verarschen wir – Politiker, Redakteure, Unternehmer, Gewerkschaften („wir müssen auch an die Arbeitsplätze denken!“), Bürger („ich fliege nach Thailand, solange das noch geht!“) – uns weiter. Beim Verblöden und Verdrängen helfen alle fleißig mit. Vermutlich sollte ich meinen Alkoholkonsum (deutlich) erhöhen. Dann denke ich vielleicht nicht mehr so stringent und die Brauereien schreiben „bessere“ Zahlen.
Leo,
ich stimme zu, dass Journalismus heute oft nicht trennt zwischen Fakt und Meinung.
Der Ergebnis ist ein Info- und Meinungs-Brei, der oft schwer verdaulich und mit Nebenwirkungen daher kommt.
Was das Ganze noch komplizierter macht: Die Frage „Was ist Fakt?“ alleine ist schwierig. Wir können nicht immer unseren Augen trauen.
Auch wenn ich mich beim Lesen köstlich amüsiert habe:
Ich nehme im Text einen deutlichen Zynismus wahr. Ich kann das verstehen als Folge eines Kampfes, der leider nicht zu gewinnen ist.
Zynismus verhindert aber auch, dass wir die Herzen der Menschen erreichen. Und jedes Herz zählt, auch wenn es vielleicht nicht dazu reicht, was wir individuell als „Sieg“ definieren. Wir leben in einer Welt der Grautöne, auch wenn uns das als Aktivisten nicht schmeckt.
Es geht meiner Meinung nach nicht mehr um den Sieg, sondern darum, die Auswirkungen der Niederlage so gut es geht abzufedern. Vielleicht ist das der Kampf, den wir heute führen müssen.