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Mit sehr gemischten Gefühlen habe ich am Wochenende in Bad Mergentheim am Jubiläum meines bischöflichen Internats teilgenommen, das ich vom 20. Januar 1976 bis Juli 1979 besucht habe. Nach der 9. Klasse wechselte ich mit meinen Kollegen ins Konvikt nach Ellwangen, wo ich 1983 Abitur machte. Denn das Studienheim in Mergentheim endete mit der 9. Klasse.

Die Hauskapelle, die 1976 noch steril mit langen Kniebänken versehen war, ist heute ein freundlicher Ort der Spiritualität. Hierher kam ich öfter zum Weinen, weil da tagsüber niemand war.

Im Vorfeld freute ich mich auf das Fest, die Begegnungen und das Wiedersehen mit dem Ort meiner Kindheit. Zugleich hatte es etwas Bedrückendes für mich, das auch während des Festtages anhielt, weil ich mich nie mehr so ohnmächtig und ausgeliefert fühlte wie damals. Zugleich war für mich der 20.01.1976 das Ende meiner (verträumten) Kindheit, weil ich als Schulversager ins Internat kam.

Ich erlebte den Akt als grausame Bestrafung, zumal ich unendlich Heimweh hatte. Jahrelang. Mit 13 Ehemaligen trafen wir uns bereits am Freitag abends in einem Mergentheimer Hotel und tauschten uns bis weit nach Mitternacht aus. Dabei wurde deutlich, dass zwar viele andere (kurz) auch Heimweh hatten, im „Kasten“ einzurücken aber als ein Privileg erlebten, weil sie oft vom Land stammten, wo die Wege weit ins nächste Gymnasium gewesen wären. Oder die Eltern hatten Landwirtschaft oder einen anderen Betrieb und man hätte zuhause körperlich hart mitarbeiten müssen oder niemand hätte Zeit für den Buben gehabt.

Die Theater AG zeugt bei der Aufführung in der Turnhalle vom heutigen Zusammenhalt der „Kästler“. FOTOS: FROMM

Als Sitzenbleiber kam ich erst zur 6. Klasse in den „Kasten“, sodass sich Freundschaften und Strukturen bereits gebildet hatten und ich mich einfügen musste. Hinzu kam der Schlafsaal, in dem ich das elfte Kind war. Insgesamt lebten wir 70 Schüler auf sehr beengtem Raum, so dass es keinerlei Privatsphäre gab, z.B. zum Weinen. An den Wochenenden war der Direktor gelegentlich der einzige Erzieher im Haus, so dass es auch kaum Aufsicht (Schutz) oder Bezugspersonen gab.

In allen Bereichen galt das Leistungsprinzip und – zumindest unausgesprochen – gab es in nahezu jedem Lebensbereich Hierarchien. Wurden diese mißachtet, folgten meist Kämpfe, verbal oder körperlich, also Gewalt. Letztere ging in den ersten Jahren vor allem von älteren Schülern aus, die in ihrer Destruktion teils unberechenbar waren und zumindest einer hatte ein Springmesser, das er mir mehrfach in unbeobachteten Momenten, z.B. im Heizungskeller, an die Kehle hielt.

Teils völlig falsch verstanden ging es dabei um „Macht“ und „Respekt“. Als Therapeut würde ich heute vermuten, diese „schweren Jungs“ hatten ihrerseits zuhause gewalttätige Väter und/oder lebten auf ihre Weise ihren Frust aus, in einem sehr repressiven System (über-)leben zu müssen. Ich habe mir in diesen (jungen) Jahren zunächst antrainiert, das wurde mir im Rahmen meiner therapeutischen Ausbildung bewusst, überhaupt keine Gefühle mehr zu zeigen. Und mit der Zeit, das weiß ich als Therapeut, spürt und fühlt man vermeintlich auch nichts mehr, weil sich das Gehirn sagt, wenn ich sowieso nicht gehört werde, kann ich es gleich sein lassen.

Mich hat diese Strategie der Gefühllosigkeit in Teilen sehr erfolgreich gemacht. Und in Verbindung mit der Sehnsucht, nie mehr ohnmächtig zu sein, habe ich vieles in meinem Leben als Einzelkämpfer erledigt (ich bin bspw. seit 2002 selbstständig) oder war immer eine Führungskraft, z.B. als Angestellter ein Redaktionsleiter und als Selbstständiger ein Chef mit bis zu zehn Mitarbeitern. Dazu war ich extrem belastbar und bin es noch heute, wenn ich wirklich etwas möchte. So kann ich locker über Wochen und Monate 60 oder 80 Stunden pro Woche konzentriert arbeiten, ohne Pause und Urlaub, wenn mir das Ziel – in der Regel Einfluss, Ansehen oder Geld – attraktiv genug erscheint.

Ein gewisser Teufelskreis, die Sucht nach Macht und Einfluss, den ich nun im Alter auch noch öffne und wozu mir der Besuch des Orts meiner Kindheit, also dem Ursprung meines toxischen Musters, hilft. Denn in der Begegnung und Berührung wird mir am bewusstesten, dass diese Opferphase meines Lebens (ich bin u.a. das jüngste von fünf Geschwistern und zweimal geschieden) längst hinter mir liegt und ich seit mittlerweile sechs, acht oder zehn Jahren zunehmend selbstbestimmt exakt das Leben führe, das ich, Leonhard Fromm, tatsächlich führen will und ich niemandem mehr etwas beweisen oder eine für mich ungünstige Situation aushalten muss: Ich bin frei.

Da ich als Therapeut sehr viel mit Männern arbeite, die sich unfrei fühlen („ich muss brav sein!“) und die seit ähnlichen Kindheitserfahrungen blockiert sind („nie mehr diesen Schmerz erleben müssen!“), dienen mir meine Kindheitserfahrungen schon lange als Ressource, mit solchen Männern (und Frauen) in tiefe Resonanz gehen und sie letztlich dort abholen zu können, wo sie – gefühlt als Acht- oder Zwölfjährige – noch immer stehen.

Deshalb blicke ich mit Dankbarkeit auf diese für mich harten 1970er-Jahre zurück, in denen vieles auch sehr schön war, z.B. konnte ich mich in der Theatergruppe entfalten, in der Turnhalle und auf dem Bolzplatz viel mit den anderen spielen, wir unternahmen viele Aktivitäten und ich war „Teil der Kästler-Gemeinschaft“, die als etwas Besonderes verstanden wurde. In Mergentheim habe ich sehr früh verinnerlicht, dass es Realitäten gibt, mit denen man sich besser arrangiert als sie zu bedauern – so bleibt man Täter (Handelnder) und wird kein Opfer.

Dem heutigen Erzieherteam und Rektor Andreas Reitzle möchte ich herzlich danken für den professionell organisierten Festtag, der uns Ehemaligen viel bedeutete mit den Einblicken in das heutige Geschehen und die Möglichkeit zum Wiedersehen – unter uns Buben von einst. Bei der Theateraufführung, Gesprächen und Hausführungen spürten wir die Leidenschaft und die Verbundenheit, die auch die heutige Hausgemeinschaft ausstrahlt und lebt.

Und ich gönne allen Beteiligten den deutlich besseren Personalschlüssel mit pädagogisch geschulten Fachkräften, die vermutlich reichhaltigere Verpflegung und die moderne Location, die zu unserer Zeit den Charakter einer Nachkriegskaserne hatte und heute eher an ein Hotel mit Einzelzimmern samt Dusche, WC und Pool im (einstigen Gemüse-)Garten erinnert. Den heutigen Schülerinnen (gibt es wohl seit 25 Jahren) und Schülern wünsche ich Gottes Segen, dass auch ihr euren Weg in das Leben und in die Gesellschaft hinein macht. Schön, dass „der Kasten“ weitergeht.

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