Das durchdachteste Buch, das ich seit Jahren gelesen habe, ist „Die Wahrheit über Eva“ von dem Kulturwissenschaftler Kai Michel und dem Evolutionsbiologen Carel van Schaik. In dem knapp 700-Seiten-Wälzer rollt das Autoren-Duo von „Das Tagebuch der Menschheit“ in allgemein verständlicher Sprache das Wissen aus über den Beginn des Lebens auf diesem Planeten bis in die Neuzeit. So ist eine Zuordnung möglich, wann und wie sich der Mensch vom Affen entfernt hat und zum Menschen wurde.
Am Anfang dieser Menschwerdung stand demnach, dass der homo sapiens vor mehr als 300.000 Jahren ein Sozialverhalten entwickelte. Denn während unter den Sammlern und Jägern einschließlich der Frauen noch alle gleichberechtigt waren und sich selbst versorgen konnten, brauchte es die Gruppe und dabei insbesondere die Männer, die ihre Nahrung mit den Jungen teilten, auch wenn diese nicht ihre eigenen waren, um auch diese satt zu bekommen und zu beschützen. Unter anderem deshalb dauern Schwangerschaften bei Menschen bis heute so lange, damit die Männer nicht identifizieren konnten, von wem welches Kind war.
Höchstes Sozialprestige genoß in jener Zeit der Mann, schreiben die Autoren, der die größte Beute zur Gruppe brachte und mit ihr teilte. Das machte ihn auch als Sexualpartner für die Frauen attraktiv. Aber in dem Maße, wie er über die Jahrtausende daraus einen Führungsanspruch und ein Privileg entwickelte, trafen sich die Frauen heimlich mit den anderen Männern und belohnten mit Sex etwa deren Gefälligkeiten im Alltag. Parallel, so die Autoren, begann die sexuelle Kontrolle durch den Alphamann, der in der Evolution deshalb zunehmend größer und stärker wurde.
Ganz wissenschaftlich merken van Schaik und Michel an, dass sich die Natur immer nur auf Weniges konzentrieren kann, weshalb bei den Männern die Kraft bspw. zulasten ihrer Multitaskingfähigkeit ging. Mit der Seßhaftigkeit etwa ab 12.000 vor Christus kamen Eigentum und Besitz in die Realität der Menschen – und damit die sexuelle Kontrolle der Frau. Denn um Besitz anzuhäufen, erfand der Mensch das Vererben und hierfür wiederum Regeln, z.B. dass der Erstgeborene alles bekommt. Und weil Ackerbau zum Bereich Sammeln gehörte, der traditionell in den Bereich der Frauen fiel, trugen sie nun die Hauptlast, während das Jagen der Männer zum Prestige und Privileg wurde.
Hatten die Frauen als gleichberechtigte Nomadinnen nur alle vier, fünf Jahre ein Kind zur Welt gebracht, weil sie dieses auf den Wanderungen tragen mussten, stieg nun ihre Reproduktionsfähigkeit auf ein Kind pro Jahr, was sie zusätzlich zur Feldarbeit schwächte. Die Männer mutierten dagegen vom Jäger zum Krieger, der zunehmend seine Sippe zunächst vor Plünderern schützen musste, später vor anderen Völkern. In dieser Zeit begann auch die religiöse Kultur, die im Ahnenkult ihren Ursprung hatte: Durch Opfer und Riten wollte man die Götter günstig stimmen für gute Ernten oder den nächsten Kampf.
Das Volk Israel, das sich wohl um 6000 vor Christus herauskristallisierte, vollbrachte als unterlegene, schwache Ethnie die kulturelle Leistung, seine Niederlagen umzuwidmen: Demnach hatten sie nicht den schwächeren Gott, sondern sie befolgten zu wenig seinen Willen. Mehr noch: Jahwe war der allmächtige Gott, der durch die Armeen der Feinde oder Mißernten sein Volk züchtigt. Diese theologisch-intellektuelle Leistung bildet den Autoren zufolge den Kontext, in dem die Schöpfungsgeschichte und die Erzählung von Adam und Eva entsteht. Deren Geschichte handelt demnach nicht von Hierarchie zwischen Mann und Frau oder Sexualität, sondern „nur“ von den Folgen des Ungehorsams – der Vertreibung aus dem Paradies.
Faszinierend fundiert und evident schildern die Autoren, wie ein kulturelles Mißverständnis zum nächsten kommt. Etwa bei den Griechen, wo die Demokratie kein Ideal ist, sondern faktisch ein Privileg männlicher Griechen, das sich gegen alle anderen Ethnien und Frauen richtet. Mehr noch: Die Astrologen, Mathematiker und Philosphen, die sich für die Zusammenhänge der Natur interessen, befassen sich auch mit der menschlichen Sexualität und kommen zu dem Irrglauben, die Männer seien „heiß“ und die Frauen „kalt“. Das leiten sie aus der Ejakulation des Spermas ab, das überkoche wie ein Topf Wasser. Deshalb warnen sie vor zuviel Geschlechtsverkehr und Onanie, weil der Mann dadurch „abkühle“ und sich schwäche.
In diese längst durch und durch patriarchalische Gesellschaft hinein wird der Jude Jesus geboren, der den Kontext seiner Religion kennt und beachtet. Van Schaik und Michel zufolge will er zur Kultur der besitzlosen Gleichberechtigung aus den Zeiten der Sammler und Jäger zurückkehren. Deshalb predigt er, der reiche Jüngling möge seinen Besitz verkaufen; die Vögel des Himmels würden weder säen noch ernten und würden doch satt; und nimmt er unterdrückte Frauen, z.B. Prostituierte, in seine Gemeinschaft auf. Seine Radikalität, bspw. auf Sexualität zu verzichten oder sich nicht mehr mit dem Begräbnis von Toten aufzuhalten, ist der Annahme geschuldet, dass das „jüngste Gericht“ unmittelbar bevorstehe.
Diese Radikalität, mit der Jesus die Gesellschaft umwälzen will, macht ihn demnach für die männliche Elite so gefährlich. Hier sichern sich die Autoren übrigens vielfach durch zitierte Theologen ab, während sie zuvor mehr auf Archäologen, Evolutionsbiologen etc. verweisen. Und nach Jesu Tod kommt es demnach wieder zu einer Mutation, weil nun Saulus von Tharsos als jüdischer Grieche mit römischem Bürgerrecht, der Jesus nie persönlich kennengelernt hat, die Deutungshoheit übernimmt. Und um erfolgreich zu missionieren, entkoppelt er die Person Jesu als Sohn Gottes von seiner jüdisch geprägten Lehre und übernimmt nur dessen universellen Geltungsanspruch. Zuvor aber erzählte er von seiner Gottesbegegnung, der ihn demnach vom Pferd gestoßen habe, ihm Anweisungen gab und Paulus nannte. Damals eine beliebte Methode, sich als Missionar zu legitimieren, erwähnen die Wissenschaftsautoren.
Im dritten Jahrhundert konvertiert der römische Kaiser Konstantin aus dem Grund des Universalanspruchs (Monotheismus) offiziell zum Christentum, um sich als Stellvertreter Christi auf Erden zu legitimieren. Damit ist jede feindliche Macht moralisch diskreditiert und Jesus zugleich instrumentalisiert: Der Schreinersohn aus Nazareth, der gegen jede Macht und Unterdrückung war, wird ins Gegenteil verkehrt. Dazu passt, dass der „große“ Kirchenlehrer Augustinus im vierten Jahrhundert, begeistert von der philosophischen Leistung der Antike, auch deren falsche Sexualerkenntnisse übernimmt und diese mit der Erzählung von Adam und Eva verknüpft.
Demnach kommt das Böse mit der Sexualität und der unkontrollierten Begierde in die Welt, die mit der Zeugung von Kindern an die nächste Generation weitergegeben wird. So konstruiert der Kirchenlehrer die Ursünde und erfindet die Erbsünde, aus der sich die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen durch den Kreuzestod Jesu ableitet. Deshalb muss Maria Jesus auch ohne Zeugung geboren haben, damit er ohne Sünde und somit ganz Gott sein kann. Das Bild rundet sich theologisch immer mehr ab, sodass auch Thomas von Aquin, der bedeutendste Theologe der Kirchengeschichte aus dem 13. Jahrhundert, diesen Irrtum nicht mehr revidiert.
Damit hat der Dominikaner die Diskriminierung der Frau weiter zementiert und letztlich den Hexenverbrennungen des Mittelalters eine Steilvorlage gegeben. Denn je mehr sich die Gesellschaft in ihrem religiösen Eifer von einer gesunden Sexualität entkoppelt, desto fanatischer wird sie. Selbst das Gros der Aufklärer hat am Glauben der Minderwertigkeit der Frauen festgehalten, fahren die Autoren fort, und liefern die Begründung: Wenn Frauen nur auf das Gebären männlicher Nachkommen reduziert, von Bildung ferngehalten und ihre kulturellen Leistungen unterschlagen werden, können sie dem Mann gar nicht auf Augenhöhe begegnen.
In dem Maß aber, wie die Frauen im Zuge der Industrialisierung als (billige) Arbeitskräfte (wieder) wichtig werden, steigt ihre gesellschaftliche Bedeutung. Die Arbeiteraufstände im 19. Jahrhundert dienten auch der doppelten Emanzipation der Frau, die sich bei August Bebel und der Forderung nach dem Wahlrecht für die Frauen manifestiert. Die beiden Weltkriege im 20. Jh. emanzipieren die Frauen weiter, weil sie die Männer in der Arbeitswelt immer häufiger ersetzen, die als Soldaten Krieg führen.
Psychologisch rührt die Unterdrückung der Frau im Kontext der Einführung von Besitz daher, dass sich ein Mann mit vielen Frauen schneller reproduzieren kann, während dies umgekehrt nicht funktioniert. Dadurch wurde der Mann auf Stärke, Macht und Erfolg konditioniert, was in der Menschheitsgeschichte unendlich viel Elend ausgelöst hat. Und aktuell steht die Menschheit an der Schwelle, sich selbst mit diesem kulturellen Muster auszurotten, weil wir längst unsere existentiellen Lebensgrundlagen zerstören.
Van Schaik und Michel, die sich gegen Ende ihres Buches immer weiter von ihrem Fachgebiet entfernen, entlassen ihre Leser aber weder in die Verzweiflung noch in die Resignation. Ihre Empfehlung: Solange nicht auch Männer Kinder zur Welt bringen können, brauche es einen sozialen Ausgleich zwischen den Geschlechtern, um den biologischen Nachteil der Frau zu kompensieren. Und, das habe die Menschheitgeschichte gelehrt: Der Mensch als einziges Vernunft-begabtes Wesen auf der Erde, habe die Chance, seine Verhaltensmuster zu ändern im Sinne einer biologischen Anpassung. Und ich sage: Das sollte jetzt möglichst schnell geschehen. „Die Wahrheit über Eva“ könnte dazu einen signifikanten Beitrag leisten.