„Das Tagebuch der Menschheit – Was die Bibel über unsere Evolution verrät“ hat mich durch die Adventszeit begleitet. Der Evolutionsbiologe Carel von Schaik (Jg. 1953) und der Wissenschaftsredakteur Kai Michel (Jg. 1967) haben das 550 Seiten umfassende Sachbuch 2016 geschrieben, das mir in der sechsten Auflage vorliegt. Ausgehend vom Schöpfungsbericht der Genesis und der fünf Bücher Mose schürft das Duo exegetisch bis zum Neuen Testament, Jesus und der „geheimen Offenbarung“ durch das „Buch der Bücher“.

Trotz Theologiestudium (1984-89), Hebräisch-Unterricht samt Einführung in das semitische Denken sowie Vorlesungen und Seminaren in Altem wie Neuem Testament habe ich bei der allgemein verständlichen Lektüre viel Neues gelernt bzw. ist mir Vertrautes durch die Repetition wieder bewusst geworden. So erzählt die Bibel die Geschichte der Bewußtwerdung der Menschheit über sich selbst als transzendentalem Wesen.

Das beginnt bei den beiden Schöpfungsberichten, in denen Adam zunächst Lilith zur Frau hat, die ihm ebenbürdig ist – vor allem in der sexuellen Freizügigkeit. Deshalb wird in der patriarchalischen Gesellschaft eine zweite Erzählung nachgereicht, in der Eva aus der Rippe Adams stammt. Zwar hat auch sie ihn verführt, aber ihre Abhängigkeit und ihre Schuld und Sündhaftigkeit sind zugleich manifestiert – und ordnen sie unter.

Die Autoren verknüpfen die Literatur mit empirischen Wissenschaften, nämlich der Transformation vom mobilen Sammler und Jäger zum seßhaften Bauern und Viehzüchter. Literarisch spiegelt sich der Wandel im Farmer Kain, der seinen Bruder Abel, eben den Umherziehenden, tötet. Da aus der Seßhaftigkeit viele Konsequenzen resultieren, zum Beispiel Besitz und Seuchen, muss vieles neu reglementiert werden. Hier hat die Vielzahl der Gesetze, Bestimmungen und rituellen Waschungen bis zur Schächtung der Tiere, die das Judentum prägen, ihren Ursprung.

Unser Weihnachten steht in einer jahrtausendealten soziokulturellen Entwicklung, bis sich der Mensch vorstellen konnte, dass Gott als Mensch geboren wird.

Denn ohne biologisches oder medizinischen Wissen nahmen die Menschen wahr, dass sich ihre Exkremente anhäuften, wenn sie nicht weiterzogen, oder sie das Verwesen ihrer Verstorbenen miterlebten, wenn sie vor Ort blieben. Dass dies Infektionsherde waren, war ebenso unbekannt, wie die Tatsache, dass wenn Mensch und Tier nun näher beisammen leben, Viren überspringen, die für den Menschen tödlich sein können. Damit stellt die Bibel auch Bezüge zur Moderne her, wie aktuell zu Covid-19.

So entstand in der Vorzeit die Gedankenkette von Geistern über Götter bis zu einem universalen Gott und parallel die Vorstellung, „Fachleute“, z.B. Seher, Heiler, Wundertäter, Propheten etc., aber auch Dämonen könnten das Geschehen beeinflussen. Dabei gingen die Fachleute ein hohes Risiko ein, ihre Glaubwürdigkeit im Fall des Scheiterns zu verspielen. Deshalb fanden sie immer neue Begründungen, aus denen detailliertere Regelungen entsprangen, warum eine Handlung, eine Segnung oder ein rituelles Opfer nicht gewirkt hatte.

Deutlich wird die Genese auch in der Sexualkultur. Konnte bei Sammlern und Jägern noch jede mit jedem so oft wie gewollt intim verkehren, weil Nachkommen grundsätzlich die Sippe stärkten und damit den Jagderfolg erhöhten, änderte sich dies mit der Seßhaftigkeit radikal: Moral und Ehrenkodex entstanden. Nun gehörten Frauen zum Hausstand, mehrten den Besitz des Vorstands und schenkten ihm Nachkommen. Der Primat des Erstgeborenen rührt etwa daher, dass er als Ältester in der Regel auch der Reifste war, den Vorsitz zu übernehmen, wenn dem Vater etwas zugestoßen war.

Männer konnten dabei mehrere Frauen haben. Damit es aber keine Streitigkeiten gab, die sehr schnell gewalttätig hätten werden können, waren Hierarchie und Erbfolge streng reglementiert. Die Bibel ist deshalb voll von Erzählungen, in denen nachrangige Mütter oder deren Söhne mit List versuchen, sich einen Vorteil zu verschaffen oder die Regeln komplett auszusetzen. Und weil die Frauen nach außen verheiratet werden, wird ihnen in jeder Sippe mißtraut. Die neue Familie fürchtet, sie halte zur Herkunft. Und der Stamm fürchtet, sie laufe nun in ein anderes Lager über.

Entsprechend reglementiert ist auch, wer sich wann mit wem verbinden darf. Und weil dies vielen Nachgeborenen nun verboten ist und die Tiere teils mit den Menschen in deren Hütten leben, thematisiert und verbietet das Alte Testament an vielen Stellen die Sodomie, also den sexuellen Verkehr mit Tieren. Der Begriff leitet sich von der Stadt „Sodom“ ab, die als besonders sündhaft galt. Eine Denkfigur geht von hier um Teufel, den man an Hörnern und seinem Paarhuffuß erkennt.

Eine andere Entwicklung, die auch das „Tagebuch“ dokumentiert, war die Abstraktion hin zum universalen Gott: Das kleine Volk Israel bleibt seinem Anführer treu, der etwa als Wolken- oder Lichtsäule, also Naturphänomen, sein Volk durch die Wüste anführt. Üblich war es, sicherheitshalber auch die Götter benachbarter oder besiegter Völker anzubeten, nach dem Motto: „Viel hilft viel.“ Die Juden taten das nicht. Im Gegenteil: Wenn feindliche Völker sie besiegten oder die Römer sie tyrannisierten, wurde das als Strafe des eigenen Gottes interpretiert, der bspw. sein Volk durch die Römer straft. Durch diese Abstraktion des Denkens wurde möglich, dass der römische Kaiser Konstantin angeblich 312 n.Chr. den christlichen Glauben annahm.

Übrigens schließt Jesus den Kreis hin zur Gleichberechtigung der Frau wie dies der Urzustand zur Zeit der Jäger war: Er schützt die Ehebrecherin vor der Steinigung; er umgibt sich mit Frauen; besucht die Schwestern Maria und Martha und auch beim Sterben bleiben sie ihm treu und sind die Ersten, die seine Auferstehung bezeugen. Erst in den letzten Passagen, in denen es um die Theologie seit dem 4. Jahrhundert geht, werden die Autoren etwas flapsig. Ein Indiz, dass Philosophie und Theologie, etwa Georg Wilhelm Friedrich Hegel und dessen Trinitätsspekulation, weshalb eben der eine Gott in drei Gestalten auftritt, weit außerhalb ihrer Fachgebiete liegen.

2 Comments

  1. Alexandwr

    Super Zusammenfassung, das Buch kaufe ich mir!

    1. Danke, Alexander. Nach Christi Geburt steigt die Abstraktion. Ab da schwächeln deshalb die Autoren, weil es zunehmend um Philosophie (Erkenntnis) und Transzendenz geht. Den theologischen Teil vertiefe ich dann gerne persönlich mit Dir: Gott erkennt sich im Du (Sohn) und der Sohn ist dermaßen in Verbindung (Geist) mit dem Vater, dass er das Reich Gottes auf Erden vorweg nimmt (Eschathologie). Für uns als Menschen geht es darum, in Verbindung mit Gott zu bleiben (Unterscheidung der Geister). Gesegnete Weihnachten!

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