Der Mob beschämt die Demokratie in den USA und die „Querdenker“ applaudieren.

Hat Stuttgart21 vor zehn, elf Jahren das Land gespalten, spaltet Covid-19 nun die Nation. Das erlebe ich nicht nur akademisch in den Medien täglich, sondern auch physisch und atmosphärisch in meinem persönlichen und sozialen Umfeld. Diese Spaltung findet zum Beispiel in den Kirchengemeinden statt, wo die super Ängstlichen es schon verantwortungslos finden, wenn überhaupt Gottesdienste angeboten werden, und andere am liebsten ohne Masken kämen, Schulter an Schulter säßen, um die Gemeinschaft zu spüren, und sängen.

Persönlich spüre ich es am meisten und am persönlichsten in der Männerarbeit, die unter Auflagen bei begrenzter Teilnehmerzahl noch immer stattfinden darf, weil sie der „sozialen Fürsorge“ dient. Hier erlebe ich Männer, die grundsätzlich nicht mehr kommen, selbst wenn man die Treffen auf sechs Personen beschränkt, weil sie quasi in der freiwilligen Isolation ausharren wollen, bis ganz Deutschland geimpft ist.

Und auch innerhalb dieser Gruppe gibt es zwei Fraktionen. Nämlich die, die diese Entscheidung ideologiefrei nur für sich treffen, und die anderen, die mich regelrecht warnen und mir Verantwortungslosigkeit unterstellen, dass ich solche Angebote überhaupt noch mache. Dabei habe ich aber jene im Blick, die etwa als kinderloser Witwer, Single oder in Scheidung lebender Vater im Homeoffice aktuell seit Monaten ohne soziale Außenkontakte leben.

Teils waren sie bereits resignativ oder depressiv, teils drohen sie aktuell in eine solche Stimmung zu schlittern, weil ihr komplettes sonstiges soziales Leben, z.B. Stammtisch, Wander-, Yogagruppe, Skatrunde etc. zum Erliegen gekommen ist. Andere verwinden den Verlust eines nahen Angehörigen oder des Arbeitsplatzes kaum, sind mit ihren diversen Süchten oder Zwangshandlungen ohne Ansprache von außen überfordert oder bangen im Lockdown seit Monaten um ihre Selbstständigkeit.

Und dann gibt es Männer, die den Raum nutzen wollen, über unsere Politiker und die vermeintlich fremdgesteuerten Mitbürger herzuziehen. Am liebsten ohne Maske, ohne Abstands- und Hygiene-Regeln. Diese Männer wollen mich dafür hochnehmen, dass ich akribisch auf die Regeln achte, oder gleich den Sinn sämtlicher Schutz- und Lockdown-Maßnahmen mit mir diskutieren, als ob ich diese beschlossen hätte oder beurteilen könnte (im Gegensatz zu ihnen).

Über solche Männer habe ich indirekt auch Kontakt in die „Querdenker“-Szene, an die ich quasi schon zwei Männer „verloren“ habe. Einer ist Ingenieur, den ich seit 11/2019 bei seiner Scheidung „begleitet“ hatte und bei allen abgründigen Gefühlen, die dabei in Betroffenen hochkommen, die sich ihrer Kinder beraubt fühlen, die den Ex-Frauen hohe Summen überweisen müssen und die sich von Familienrichtern und Jugendämtern nicht gesehen fühlen. Der Frust, den ein Mann hier mit dem Rechtsstaat erfahrungsgemäß erlebt, entlädt sich m.E. im Widerstand „gegen das System an sich“.

So erkläre ich mir die Anfälligkeit von Kleinunternehmern und Freiberuflern, die sich „vom Staat“ in ihrer Selbstständigkeit alleingelassen fühlen, für die „Querdenker“ und andere Strömungen wie Pegida oder AfD. Für diese wie für viele Hartz IV-Empfänger ist Öl ins Feuer des Unmuts, dass Konzerne wie Commerzbank, Lufthansa oder Tui als systemrelevant mit Milliarden gestützt werden. Dazu passt dann jede persönliche oder charakterliche Verfehlung und Bereicherung eines einzelnen Politikers, um die „Dekadenz des Systems“ etc. anzuprangern.

Alle „Covid-19-Leugner“ und „Querdenker“ in meinem Umfeld haben eine „Wunde“, sind z.B. beruflich oder familiär gescheitert oder sehen dies zumindest für sich selbst so. Und diese „Wunde“ wird nun von und in der „Gemeinschaft der Querdenker versorgt“. Was sie nicht sehen können oder wollen: Hier werden diese Männer und Frauen nur als Auditorium und „Masse“ mißbraucht, um mehr Druck ausüben zu können. Deshalb ist man offenbar dort so nett zu ihnen, so solidarisch, so fair, wie sie mir berichten, wie sie es sonst scheinbar in der bundesrepublikanischen Gesellschaft nicht erleben. An letzterer Vision arbeite übrigens ich statt Rattenfängern auf den Leim zu gehen.

Mehrfach habe ich vergeblich mit diesen Menschen gesprochen, wobei ich primär zugetextet, belehrt und beleidigt wurde. Dabei haben sie sehr schnell von manchen Journalisten, z.B. bei „Bild“ oder „RTL“, und vermeintlichen Politikern wie Donald Trump oder Björn Höcke gelernt: Man werde ja wohl noch Fragen stellen und „eigene Fakten und Quellen“ einbringen dürfen. Mein jüngstes Beispiel: Woher ich wüßte, dass der Pöbel, der das Kapitol gestürmt hat, „Trumps Leute“ gewesen seien? Und weiter: Er könne beweisen, dass Joe Biden dement ist. An der Stelle gab ich, der Mann aus den „System-Medien“, auf.

Andererseits, auch das gehört in diesen Kontext: Ich kenne 85-Jährige, leider auch im kirchlichen Umfeld, die rummaulen, dass man sie nicht anruft und per Chauffeur abholt, damit sie als Erste gegen Covid-19 geimpft werden. Soviel Ignoranz gegenüber dem, was aktuell weltweit und in der deutschen Gesellschaft los ist, kann ich nicht nachvollziehen. Dagegen empört sich die 98-Jährige, für die ich regelmäßig seit Jahren einkaufe, dass sie privilegiert sein soll. Ihre Enkelinnen seien Lehrerinnen, Ärztinnen, Krankenschwestern – DIE müssten doch bevorzugt geimpft werden.

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