Seit rund einem halben Jahr bereichert der zweieinhalbjährige Sohn meines Kollegen mein Leben – und das meiner Frau. Fast regelmäßig am Wochenende hole ich den Jungen für drei Stunden zu uns, gehe mit ihm in die Kirche, hole beim Bäcker eine Brezel mit ihm für ihn, wir puzzeln zuhause oder ich lese ihm vor. Es ist schön zu erleben, wie das Kind mir vertraut. Mich faszinieren seine Begeisterung für Bagger, Radlader, Krane oder Lkw – realiter wie auch als Spielzeug. Gelegentlich bringe ich ihn in den (Wald-)Kindergarten oder hole ihn dort ab. Dann bin ich beeindruckt, wie er sich freut, mich zu sehen und unterwegs fast pausenlos plappert, was er alles sieht (in der Weihnachtszeit bspw. an Fassaden kletternde Nikolauspuppen) und ihn beschäftigt.
Den Eltern bin ich dankbar, dass sie mir/uns den Kleinen anvertrauen. Ein wenig ist dahinter auch wechselseitiges Kalkül. Denn seit klar war, dass das Paar ohne Großeltern in der „fremden“ Stadt auch noch Zwillinge bekommt, war mir klar, dass die junge Familie Unterstützung braucht. So sind wir nun alle seit Tagen und Wochen in Alarmbereitschaft; ich aber zugleich in großer Gelassenheit. Denn was wir uns bis hierher vorgenommen hatten, klappt fast noch besser als erwartet. Mein Besuch jüngst bei Großeltern in der Nachbarschaft, deren fünfjährige Enkelin für Tage zu Gast war, war ein Highlight für die Kinder, die sich stundenlang mit Puppenwagen, Kinderküche und Puzzeln beschäftigten und immer wieder herzten.
Ja, von den Kindern können wir sehr viel lernen und als Therapeut und Teamentwickler ist es häufig meine Aufgabe, Menschen wieder zu dieser Intuition, Spontaneität und Echtheit ihrer Gefühle und Kenntnis ihrer Bedürfnisse zu befähigen. Die Kinder unterscheiden auch noch nicht zwischen arm und reich, richtig oder falsch oder Zugehörigkeit zu Parteien, Ethnien oder Religionen etc. Sie nehmen „nur“ wahr: Interessant oder langweilig. Differenzierung, Bewertung, Kategorisierung etc. bringen erst wie Erwachsene ihnen bei. Das entlastet in Teilen und gibt Orientierung. Sehr oft aber begrenzt und limitiert es auch. Da wünsche ich mir von uns Erwachsenen mehr Leichtigkeit – und erlebe schon auf dem Spielplatz meist das Gegenteil. Schade, dass Erziehungsberechtigte kein Training durchlaufen (müssen), in dem sie sich ihrer Projektionen, Vorurteile und Begrenzungen bewusst werden: Dann würden sie nicht all den eigenen Scheiß ungefiltert an Wehrlose weitergeben und damit duplizieren und potenzieren.
Und schließlich: Dieser Junge und seine Zwillingsgeschwister werden sehr wahrscheinlich das Jahr 2100 erleben – und damit eine Erderwärmung von sechs Grad! Was das bedeutet, wissen zwar viele Experten, z.B. Klimaforscher, die breite Masse der Bevölkerung aber verdrängt es weiter und weiter. Hoffnung macht mir in diesem Kontext, dass seit Herbst kluge und mutige Schüler weltweit Freitagmorgens auf Unterricht verzichten und auf den Klimawandel und das dilletantische Versagen der Erwachsenen, einschließlich der vermeintlichen Eliten in Politik und Wirtschaft, aufmerksam machen. Diesen jungen Leuten gehören meine ganze Hoffnung und Sympathie. Und an meinem Platz in der Gesellschaft nehme ich diese Verantwortung seit Jahrzehnten war. Das bin ich meiner Bildung schuldig.