Hansjörg Hemminger: „Gleichgültigkeit korrespondiert mit diffuser Erinnerungsgeschichte.“ FOTO: FROMM

Eine spannende Diskussion über die eigene christliche Identität und die Rolle der Kirche in unserer Gesellschaft hat das einstündige Referat von Dr. Hansjörg Hemminger ausgelöst. Der frühere Beauftragte der Landeskirche für Weltanschauungsfragen sprach am Freitag beim Adelberger Männervesper, das ich halbjährlich aus Sympathie und Interesse besuche.

„Wir sind eine religiös plurale und distanzierte Gesellschaft“, stieg Hemminger nach einem zünftigen Vesper in seinen Vortrag ein. Bis 2014 beobachtete der Psychologe und Biologe im kirchlichen Auftrag religiöse Strömungen im Land; beantwortete Anfragen von Journalisten und besorgten Bürgern und begleitete Aussteiger von Sekten. „Dabei haben wir wiederum wertvolle Informationen über Strukturen und Praktiken bekommen,“ erzählt der Pensionär.

Soziologisch sei Religion ein Sinnangebot, das sich nicht auf etwas, sondern die Welt an sich bezieht und über sie hinaus reicht (Transzendenz). Sie umfasse immer eine Lehre, Symbole und Riten und präge kulturell in Liturgie, Kunst und Recht. Kundig ging der Experte immer wieder auf Zwischenfragen ein. So hat Laotse die chinesische Religions- und Denkschule des mystischen Taoismus begründet, während Konfuzius pragmatisch war.

Nennenswerte Präsenz in Deutschland, so Hemminger, haben das Christentum, das sich an der Mitgliedschaft messen lässt; die Esoterik, die teils parallel tief in bürgerliche Milieus reiche; der Hinduismus und Buddhismus als Denkschulen und der Islam. Letzterer sei aber primär kulturell-politisch präsent und beziehe sich auf die Ethnie. Religiös verbunden sei allenfalls ein Drittel der Muslime.

„Asymmetrisch pluralistisch“ nennt der Referent unsere Gesellschaft, weil zwar nahezu jede Religion in Deutschland vertreten sei, die Konfessionslosen aber mit 35 Prozent, die Katholiken mit 29 Prozent und die Protestanten mit 27 Prozent klar dominierten. Danach sind die Sunniten mit 3,2 Prozent weit abgeschlagen die größte der kleinen Gruppen. Ähnlich groß seien nur Orthodoxe, wenn man dort alle Richtungen also Griechen, Russen, Serben oder Rumänen zusammen nehme.

Methodisten/Baptisten sowie unabhängige Gemeinden kämen bundesweit je nur auf 300.000 Mitglieder. Ebenso viele zählt die Neuapostolische Kirche. Zeugen Jehovas kommen auf 167.000 Mitglieder in Deutschland und Juden auf 100.000. „Unsere Gesellschaft ist mehrheitlich religiös gleichgültig,“ so Hemminger, und Kirchenkritik sei weit verbreitet, wobei der Referent die Substanz dieser Kritik massiv bezweifelt.

„Es gibt eine breite Zustimmung zu den christlichen Werten, wobei viele deren Ursprung gar nicht mehr erkennen“, sagt der Referent. Das korrespondiere „mit einer diffusen Erinnerungsgeschichte an Kreuzzüge, Inquisition und Hexenverbrennung.“ Religionen würden in Deutschland an ihrer Verfassungskonformität gemessen, über die Richter wachen.

Umgekehrt wüssten viele Pegida-Demonstranten in Leipzig oder Dresden nicht, was sie verteidigten. Ihnen gelte das „christliche Abendland als Vorwand für Ausgrenzung.“ Begegnung und Dialog zwischen den Religionen gelinge, wenn man das Gemeinsame entdecke. Vorbild hierfür sei das Zusammenwachsen von Katholiken und Protestanten.

Eine lebhafte Diskussion, die Klaus Schanbacher als Organisator moderierte, belegte, dass Thema und Referent gut gewählt waren. Deren Tenor: In der Familie und unter Freunden mehr über eigene religiöse Befindlichkeiten sprechen und damit die Sprachlosigkeit bei dem Thema überwinden. Das nächste Vesper findet am 23. März statt. Denn geht es um „Bewahrung der Schöpfung – so schaffen wir die Energiewende.“

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