Über Weihnachten, Neujahr und Dreikönig bin ich fast täglich in einen katholischen Gottesdienst gegangen. Die Liturgie macht für mich diese Jahresphase feierlich, ich singe gerne die (Weihnachts-)Lieder und angesichts der Dramatik in der Welt mit Erderwärmung, Artensterben, brennenden Wäldern und Menschen, die Böses tun, komme ich mit meinen Sorgen in die Kirche und trage sie vor Gott. Allerdings sind die Messen sehr ritualisiert, mit meinen 56 Jahren gehöre ich zu der jüngeren Minderheit und es fordert meine ganze Spiritualität, für mich aus den Gottesdiensten etwas mitzunehmen, was mich auf Dauer nährt. Was mir fehlt, ist das Gefühl einer (Glaubens-)Gemeinschaft. Am liebsten würde ich gelegentlich beim Friedensgruß den Platznachbarn fragen: Warum bist Du eigentlich hier? Was bedrückt Dich? Was glaubst Du? Aber das Format sieht soviel interaktiven Kontakt nicht vor.
Über die Beerdigung meines Latein- und Griechischlehrers am 30. Dezember in Ehingen/Donau, wo ich 1983/84 das Theologische Proseminar besucht hatte, bin ich mit etlichen ehemaligen Kommilitonen teils nach 30 Jahren erstmals wieder in Kontakt gekommen. Etliche, die Priester waren, sind es längst nicht mehr; etliche, die Theologie studiert haben, sind wie ich nie in den kirchlichen Dienst und arbeiten heute im Personalwesen oder als (Unternehmens-)Berater; und etliche, die als Pastoralreferenten in die Gemeindearbeit gegangen sind, wo ein Priester ihr Dienstherr ist, haben sich in Nischen wie die Klinikseelsorge oder die Weiterbildung pastoraler Mitarbeiter zurückgezogen, um Repressionen zu entgehen.
Ein Kollege, der als Klinikseelsorger in der Schweiz arbeitet, meinte, das Frustrierendste sei, dass er aus nahezu jedem zweiten Patientenzimmer herausfliegt, wenn er sage, dass er von der Kirche kommt. Wie viele Enttäuschungen müssten diese Menschen mit kirchlichen Mitarbeitern erlebt haben, dass diese nun kollektiv als so toxisch gelten. Und eine Theologin meint, Bischof Gebhard Fürst lebe in Rottenburg in „seinem Raumschiff, umgeben von Ja-Sagern und Abnickern“. Den Kontakt zu ganz normalen Menschen und deren Befindlichkeit habe er nicht. Auch nicht den Mut, innerhalb der Bischofskonferenz Profil zu zeigen, wenn es um verheiratete Priester, Trauung homosexueller Paare, gemeinsames Abendmahl mit den Protestanten oder Zulassung von Frauen zu priesterlichen Ämtern gehe. All diese Verweigerungen seien schlicht nicht mehr vermittelbar statt dankbar zu sein, dass Menschen überhaupt noch etwas von der Kirche wollen.
Am 27. Dezember war ich übrigens selbst Trauerredner bei einem guten Bekannten, der vor Weihnachten gestorben war. Dieser wunderbare Mann war schon in den 1970er Jahren aus der katholischen Kirche ausgetreten, weil der Pfarrer ihn mehrfach mit Aussagen verletzt und mit Entscheidungen übergangen hatte. Bei der Trauerfeier nannte ich zwei konkrete Situationen, bat den Toten im Namen der Kirche posthum um Vergebung und sagte den 150 Trauernden, die Ansprüche des Verstorbenen an Gottes Bodenpersonal seien wohl zu groß gewesen. Und in der Gewissheit auf das Vertrauen des Bekannten in meine Katholizität las ich anschließend aus der Bibel vor, „predigte“ von der Auferstehung und ermutigte die Zuhörer, dass der Gestorbene für uns alle ein Vorbild sein könne, weil er Werte wie Kameradschaft, (soziale) Gerechtigkeit und Versöhnung Zeit seines Lebens gelebt habe. Schließlich fassten wir uns auf dem Friedhof an den Händen und beteten gemeinsam das Vater-unser. Sicher zehn Teilnehmer sprachen mich hinterher an, treffender hätte man den Verstorbenen nicht verabschieden können.
Vier Tage später war ich in der Jahresschlussandacht unserer Gemeinde. Dort wurde traditionell die Statistik unserer Pfarrei verlesen: Auf 50 Taufen kamen 102 Tote, 110 Austritte und zwei Eintritte. Außerdem fanden zwölf Trauungen statt. Bei der Erosionsgeschwindigkeit werden sich bei meinem Tod sicher nicht mehr viele finden, die an meinem Grab (auswändig) „Großer Gott wir loben Dich“ singen. Den „synodalen Weg“ aber, den die deutschen Bischöfe ab März in ihren Diözesen begehen wollen, könnten sie sich sparen. Geredet ist längst genug und Strategiepapiere wurden auch gedruckt. Woran es fehlt, ist in echte Beziehungen zu treten und wahrhaft solidarisch zu leben.
Ich leite mehrere ehrenamtliche (Männer-)Gruppen an mehreren Orten. Die haben – auf kleinem Niveau – Zulauf, weil hier Menschen respektvoll und wertschätzend untereinander in vollen Kontakt gehen. Seelsorger bräuchten mehr therapeutische Ausbildung und Selbstausleuchtung ihrer Motive, den Glauben zu verkünden. Vermutlich läge u.a. dort der Schlüssel für künftige Glaubwürdigkeit und Relevanz.