Es ist ja seit Jahrzehnten en vogue, auf die Kirche einzuprügeln, insbesondere die katholische. Und man setzt sich diversen Gefahren und Projektionen aus, diese Institution auch noch zu verteidigen. Aber gelegentlich ist meine Schmerzgrenze des Wahrnehmens und des Schweigens erreicht. Jüngstes Beispiel ist ein Vierspalter in der „Stuttgarter Zeitung“ vom 20. März, in dem der langjährige Leiter der Katholischen Erwachsenbildung in Ludwigsburg öffentlich mitteilen darf, dass er und seine Frau nun aus der Kirche austreten.
Dessen nicht genug: Sie liefern auch gleich eine Homepage mit, auf der Gleichgesinnte ihrem Beispiel folgen können bzw. sollen. Denn typische Katholiken wie Otmar Traber, der sich über Jahrzehnte auch als Kirchenkabarettist einen Namen gemacht hat, sind immer auch missionarisch. Sie müssen also andere bekehren, zur Nachfolge aufrufen und dergleichen.
Was ich die Autorin des Beitrags, Sabine Armbruster, aber gerne fragen würde, warum hat sie den Neurentner nicht nach dem Zeitpunkt seines Austritts gefragt, der vor zehn oder 20 Jahren sicher auch schon schlüssig gewesen wäre. Aber da war Traber noch Angestellter der Katholischen Kirche. Das hätte zu Ärger geführt, letztlich zu seiner Entlassung – und vermutlich in die Arbeitslosigkeit. Als freier Kabarettist wäre das Leben härter gewesen.
Wäre der Kollege, ich bin auch Diplom-Theologe und bereits 2009 (zum zweiten Mal) aus der katholischen Kirche ausgetreten, leise gegangen, hätte ich es nicht erfahren und ohnehin geschwiegen. Seine Lautheit aber provoziert meine Gegenrede: Otmar, was Du da gemacht hast, ist opportunistisch und feige. Und Feigheit und Verlogenheit kenne ich zur Genüge aus diesem, meinem Laden. Deshalb war 2009 das Maß – vorläufig – für mich voll.
Aber ich verdanke dieser „Mutter Kirche“ auch so viel, dass ich nicht gegen sie agieren würde. Und ich weiß über Pfarrer, Pastoralreferenten und andere kirchliche Mitarbeiter so viel, dass mir das Kotzen kommen könnte. Aber ich halte mich an den Bibelspruch, wonach die Kranken den Arzt brauchen. Deshalb arbeiten die Schwachen bei der Kirche und damit sind sie in guter Gesellschaft: Am Freitag jährt sich der Tag, an dem Apostel Petrus Jesus dreimal verleugnet. Nach der Auferstehung kann der „ungläubige Thomas“ erst glauben als er in Jesu Wunde gefasst hat u.v.m.
Und was mich auch empört: Ich kenne innerhalb der Kirche nicht nur Ehe- und Zölibatsbrecher (vor allem homosexuelle Priester, die heterosexuellen trinken eher zu viel Alkohol), sondern auch lautere Seelsorger, die den Zölibat halten. Und das sind vermutlich nicht wenige. Sie alle unter den Generalverdacht zu stellen, sie hätten etwas mit Kindern, ihrer Haushälterin oder sonst was, ist für mich klerikaler Rassismus. In sämtlichen Diversity-Debatten wurde dieser Missstand der Verunglimpfung mit keiner Silbe erwähnt.
Und, weil ich einmal Priesteramtskandidat war und Journalist bin: In sämtlichen TV-Debatten und Medienberichten habe ich noch nirgendwo gehört, dass die Täter, die Kinder sexuell mißbrauchen, auch selbst Opfer sind. Vermutlich hatten 70 Prozent aller Abiturienten, die sich als 20-Jährige mit mir auf den Weg gemacht haben, Priester zu werden, Angst vor der eigenen Sexualität; Sorge, keine Frau zu finden oder ähnliches. Für uns alle war es ein vermeintlich charmanter Weg, als Priester das Thema schlicht ausklammern zu können und dafür sogar noch bewundert zu werden.
Und wer das wirklich katholische Milieu der 1970er-Jahre noch kennt, der weiß auch, welche existenzielle Bedrohung es für einen jungen Katholiken gewesen sein muss, zu ahnen, dass es ihn eher zu anderen Jungs hinzieht, dass er also nicht „normal“ sei. Für den war der Zölibat in seiner jugendlichen Begeisterung geradezu eine Perspektive. In meinem Fall kam hinzu, dass ich das Ehemodell meiner Eltern in keiner Weise attraktiv fand. Auch das erleichterte, die Ehelosigkeit zu unterschätzen.
Und wenn bei jungen Priestern die erste Euphorie der Weihe verflogen ist, der Alltag hart ist und die Nächte einsam, dann zehrt das an Moral und Disziplin. Dann wachsen, wenn Glaube und Spiritualität nicht groß genug sind, Gier und Begierde – und bei manchem auch der Neid auf das vermeintlich schöne Leben der anderen und der Hass auf sich selbst oder zumindest die Verachtung für sich selbst. Dann steigen die Chancen für (massives) Fehlverhalten.
Übrigens erlebe ich als Therapeut und Führungskräftecoach auch in Firmen, dass schlicht weggeguckt wird, wenn man etwa sexuelle Belästigung erlebt. Der Grund: Der Vorgesetzte und die Kollegen sind überfordert mit der Situation, der betroffene Programmierer scheint in der Abteilung unersetzlich u.v. m. Ja, und dann wird geschwiegen, gedeckt, vertuscht. Und Beteiligte haben sich durch Nichts-tun längst mitschuldig gemacht und arbeiten nun am Verdecken teils aktiv mit.
Und ein Letztes zu Demokratie und Reformbewegung Maria 2.0.: Wer in Europa und Nordamerika reformieren will, der kennt die DNA der katholischen Kirche nicht. Das ist eine weltweite (Männer-)Organisation, die hervorragend zu den (Macho-)Kulturen in Südostasien, Afrika oder Südamerika passt. Dort werden noch immer genügend Frauen Ordensschwestern und Männer Priester, weil ihnen das ein privilegiertes Leben ermöglicht. Somit hat „die Kirche“ keinen Reformbedarf.
In den 1950er- und 1960er-Jahren gingen auch hierzulande noch viele Frauen ins Kloster, ergriffen sozialer Berufe und führten ein gesichertes, überschaubares Leben. Nicht, weil sie besonders fromm gewesen wären, sondern weil Vergewaltigung in der Ehe noch legal war und sich viele Frauen als Ungelernte in der Aufzucht von fünf Kindern „opferten“. Und vielen Männern, die in der Landwirtschaft oder in Fabriken hart hätten schuften müssen, boten Ordensleben oder Priesterstand eine Alternative mit hohem Sozialprestige.
Ich wäre schon dankbar, wenn viele von denen, die von Kirche in ihrer Vielfalt keine Ahnung haben, eher Fragen stellten, um zu verstehen, statt mit ihren Projektionen zu nerven und religiöse Gefühle zu beleidigen. Ich habe mir sagen lassen, Pädophilie gäbe es auch in Sport- und Musikvereinen. Vielleicht können diese Spötter dort kompetenter mitsprechen. Gesegnete Kar- und Ostertage.