Seit Stuttgart21 vor acht bis zehn Jahren hat kein Thema mehr unsere Gesellschaft und meinen Bekanntenkreis so sehr gespalten wie die aktuellen Demos der „Querdenker 711“ in Berlin, Stuttgart, Heilbronn und anderswo. Menschen, die ich bislang zu 100 Prozent geschätzt habe, erzählen mir plötzlich, ich müsse mich in den „freien Medien“ informieren, um die „wahren Sachverhalte zu Corona“ zu überreißen. In ihrem Eifer übersehen sie, dass ich seit 30 Jahren Teil der Presselandschaft bin, die sie nun so salopp als unfrei, gesteuert etc. abwerten.
Anthroposophen, Kapitalismus-Kritiker, Impf-Gegner, Vegetarier, Evangelikale und AfD-Wähler aus meinem Umfeld äußern sich plötzlich zu Pandemie, Rechtsstaatlichkeit, vermeintlicher Regierungswillkür und stellen Verschwörungstheorien in den Raum. Menschen, die ich im Alltag schätzen gelernt habe, diskreditieren die Mund-Nasen-Bedeckung als Maulkorb und Bürger, mit denen ich auf Facebook befreundet bin, kritisieren vermeintliche Polizeigewalt.
Jüngster Höhepunkt waren die Ausschreitungen am Wochenende in Berlin, wo rund 400 Demonstranten teils mit Reichsflaggen in der Hand versucht hatten, den Reichstag zu stürmen. Da posten dann „FB-Freunde“ von mir Beiträge, in denen sie zur Toleranz aufrufen, wenn jemand solche Flaggen trägt, den Mundschutz verweigert und die Bundeskanzlerin diskreditiert. Das gehöre zur Meinungsfreiheit.
Aus meiner Sicht ist spätestens jetzt Schluss mit lustig. Der Staat hat meine volle Unterstützung, mit aller Klarheit gegen diese Demokratiezerstörer und Viren-Schleuderer vorzugehen. Die meisten sind ja so intolerant und verbittert, dass sie Redakteure, die ihnen Mikros hinhalten und deren Kameraleute sie filmen wollen, bedrohen und bereit sind, handgreiflich zu werden. Und wer doch vor die Kamera tritt, bekommt kaum einen (grammatikalisch) geraden Satz heraus, geschweige denn eine merkfähige Aussage.
Wie schon bei Pegida und der AfD sind nun die diffusen Sektierer auf der Straße, die mit einer komplexen Gesellschaft nicht klarkommen bzw. sich simple Lösungen wünschen, die sie in ihrer Lebenswelt idealerweise noch begünstigen. Das sind, ähnlich wie bei vielen Trump-Wählern in den USA, etablierte Einheimische, die ihren sozialen Abstieg fürchten oder bereits erlebt haben. Andere abzuwerten ist eben einfacher und geht schneller als sich selbst weiterzubilden bzw. strukturelle Veränderungen zu akzeptieren, weil das Leben eben dynamisch ist und nicht statisch.
Mir sind diese Mit- und „Reichs“-Bürger in keinster Weise gleichgültig. Auch fühle ich mit jedem, der durch Energiewende, KI oder andere Veränderungen in seiner (beruflichen!) Existenz bedroht ist. Das ist schrecklich. So wie eine Scheidung oder die Diagnose Krebs. Denn zum deutschen Volk gehören alle, die hier leben. Und wir müssen versuchen, alle mitzunehmen – in der Demokratie, auf dem Arbeitsmarkt, in der Sozial- und Steuerpolitik und in der Pandemiebekämpfung. Das gelingt besser in kleinen Gesprächsgruppen statt in diesen grölenden Horden. Und vermutlich wäre es sinnvoller, mit diesen Menschen über ihre persönlichen Ängste und ihre Enttäuschungen über diesen Staat und seine Organe zu sprechen statt über vermeintliche Fakten. So könnten wir Menschen wieder in die Gesellschaft integrieren – statt mit Polizei und Bußgeldern auf sie reagieren zu müssen. Ich bin zum Dialog bereit.
Lieber Leo,ich bin nicht so geübt in derlei Aussagen, aber ich
bin derselben Ansicht wie Du. Mit derlei Zwergenaufständen erreicht niemand etwas.
Lieber Erwin,
herzlichen Dank für Deine Zeilen. Dass DU kommentierst, bedeutet mir viel!
Tatsächlich warst Du immer der versierte Praktiker. Wahr ist aber auch, dass Männer wie Du als meine Gruppenleiter bei den weltweiten (!!!) Pfadfindern meinen Charakter und meine geistige Haltung geprägt haben. Ich hoffe, Du siehst, dass Deine Ehrenarbeit erfolgreich war. Dein Begriff des „Zwergenaufstands“ hat für mich übrigens etwas Tröstliches. Wie wäre es mit „Rülpser der Demokratie“?
Liebe Grüße, leo