Überall totale Reglementierung: Seit meiner 100. Blutspende am Mittwoch besitze ich einen Mundschutz. FOTOS: FROMM

Die Frage von Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit gewinnt angesichts der Corona-bedingten Beschränkungen des sozialen und ökonomischen Lebens seit Tagen in meinen Gedanken und Wahrnehmungen Raum. Dabei ist mir bewusst, dass ich weder Virologe noch Epidemologe oder Mediziner bin. Ich artikuliere mich also als Bürger und Journalist, nicht zuletzt weil mir in Medien und Politik zu wenig Diskurs herrscht, den ich aber für meine Meinungsfindung und -bildung brauche. Als auf das Grundgesetz verpflichteter Redakteur habe ich 1991 gelernt, unangenehme und unpopuläre Fragen zu stellen. Und zuvor war im Theologiestudium mein Schwerpunktfach Ethik.

Als Student hat mich das Beispiel unseres Professors fasziniert, der vom Warschauer Ghetto während des Zeiten Weltkriegs berichtete, um uns die Relevanz seines Faches bewusst zu machen: Das Ghetto verfügte nur noch über einen begrenzten Vorrat an Insulin, Nachschub war nicht absehbar und die Zahl Insulin-bedürftiger Ghetto-Eingeschlossener war bekannt. Die jüdischen Ärzte standen nun vor dem Dilemma, die Insulinversorgung zu regeln. Denn hätten alle weiter nach Bedarf bekommen, wären die Vorräte binnen Tagen aufgebraucht gewesen und alle betroffenen Diabetiker wären gestorben. So „spielten“ die Ärzte diverse Szenarien durch, um zu einer ethisch fundierten Entscheidung zu kommen: Die Parameter für den Bezug waren Alter, Dosisintensität, Nebenerkrankungen, Relevanz für die Gemeinschaft (Bildung) u.v.m.

Je nach Abwägung sprachen die Ärzte, die dem Ghetto-Rat Vorschläge zu unterbreiten hatten, mehr oder weniger Menschen bzw. diesen oder jenen das Recht auf Leben ab. Angesichts des Todes, der den Menschen ohnehin vertraut war, wurde gemäß meiner Erinnerung eine der schärfsten Regelungen getroffen. Darauf kommt es in meinem Beispiel aber gar nicht an. Im Kern habe ich in dieser Vorlesung verinnerlicht, dass es in diesem Leben und auf dieser Welt nur darum geht, durch eigenes Handeln (oder nicht Handeln aus Angst vor Fehlern, Verantwortung etc.) möglichst wenig schuldig zu werden. Theologisch stehen dahinter wiederum die Erbsünde und die Erlösungsbedürftigkeit (durch den Kreuzestod Jesu). Aber das möchte ich nicht ausführen, weil ich hier nicht missioniere, sondern mich politisch artikulieren möchte.

Die Epidemologen reglementieren unseren Alltag seit Wochen. Einziges Kriterium: Jedes Leben retten.

In den vergangenen Wochen haben wir gelernt zu schweigen und zu vertrauen, weil dies die Stunde der Experten war. Weil ich aber seit Wochen keine Silbe dazu höre, dass es außer medizinischen Indikatoren weitere Fakten gäbe, möchte ich mein Schweigen jetzt (unter-)brechen: Wissend, dass auch vermeintlich gesunde 35-Jährige von jetzt auf nachher am Virus qualvoll ersticken können (Sedierung mindert zumindest die Qual, habe ich als Sterbebegleiter über Schmerztherapie gelernt), halte ich mich an mir zugängliche Fakten. Demnach sterben an Corona aktuell überwiegend über 80-Jährige mit Vorerkrankungen. Viele von diesen wären vermutlich vier Wochen später auch an einer Grippe gestorben und/oder sind eventuell dement.

Weil man mir und jedem, der so argumentieren würde, einen Strick der Empörung dreht und mir Unmenschlichkeit, Utilitarismus und alles möglich unterstellen kann, z.B. die Euthanasieverbrechen der Nazis gutzuheißen, höre ich keinen Politiker, keinen Journalisten und keinen Altenpfleger so argumentieren. Keinen einzigen. Wie steht es hier mit der Meinungsfreiheit? Der Verantwortung? Seit ich denken kann, gehören Altenheime, Pflegebedürftige und alte Menschen zu meinem sozialen Umfeld. Und von vielen dieser Menschen weiß ich und wiederhole ich seit Jahrzehnten die Erfahrung, dass sie sterben wollen; dass sie niemand besucht; dass sie zuhause oder in Heimen verwahrlosen (noch so ein Tabu); zunehmend auch in Kliniken. Die Gründe sind bekannt: Pflegenotstand, schlechte Bezahlung, Unterfinanzierung des Gesundheitssystems.

Wer hat die 85- und 95-Jährigen in den Heimen bspw. gefragt, ob sie lieber Besuch wollen, Gruppenangebote auf Station und Gemeinschaftserlebnis im Flur etc. statt präventiv vor einem grausamem Erstickungstod weggesperrt zu werden? Ich kenne keine solche Erhebung; nicht mal einen Pflegeheimleiter, einen Gerontologen oder Psychologen, der dahingehend für seine Klientel spräche. Will sich da niemand angreifbar machen? Denn wenn ich diesen Experten „die Zunge lupfe“ und wir keine Zuhörer haben, höre ich auch anderes. Die Kollegen in den Redaktionen agieren zudem fast nur noch wie verlängerte Arme des Pressesprechers der Bundesregierung, während auch deren werbe-finanziertes Geschäftsmodell aktuell vollends den Bach runtergeht. Ich assoziiere den Begriff des „Kadaver-Gehorsams“. Ähnlich einheitlich agieren die Kirchenoberen, weshalb vermutlich deren Theologen an der Basis auch nichts Kritisches sagen.

Aber ich will ethisch argumentieren. Der Dehoga Baden-Württemberg prognostiziert gestern ein Drittel Dehoga-bedingter Pleiten. Das wären 10.000 Betriebe und deutlich mehr Existenzen. Darunter sicher viele 30- und 40-Jährige, die noch ein spannendes Berufsleben vor sich haben, die Familien gründen und ihre Kinder finanzieren sollen. Und das ist nur eine Branche. Messe- und Eventveranstalter, Schausteller, Musiker, Freischaffende, Touristiker und viele, viele mehr werden ihre Existenz verlieren und auf staatliche Hilfe angewiesen sein. Für lange Zeit. In der Folge werden wir nicht die Wertschöpfung erbringen, die in zwei, drei Jahren das Gesundheitssystem finanziert; die Schulden der jetzt in Rente gehenden Generation abträgt und der Aufbau von Fluchtursachen bekämpfenden Wirtschaftsstrukturen in Afrika bricht Corona-bedingt auch wieder zusammen und erzeugt millionenweise neues Leid.

Aber Ökonomie und Fiskus mögen nicht mein Fokus sein, allein schon, weil ich der Krise als Positives abgewinne, dass unser Konsumismus endlich zum Erliegen gekommen ist, mit dem wir andere Menschen, Tiere, Natur, Umwelt immer nur benutzen, verbrauchen, verschmutzen und verbrennen. Immer in der Sehnsucht, irgendeine Erfüllung oder Belohnung (für ein nicht selbst bestimmtes und verantwortetes Leben?) durch unser Wollen-orientiertes Leben zu erlangen statt zu sein. Und damit komme ich zu meinem letzten Punkt: Die Millionen Kinder, die seit Wochen auf ihre Freunde und Gemeinschaftserlebnisse verzichten müssen. Auf die Vereine, in denen kein soziales Leben mehr stattfindet. Die Behinderten, die nicht mehr in ihren Wohlfahrtseinrichtungen Gemeinschaft und Wertschätzung erleben. Und, und, und. Auch hier wird Vieles zusammenbrechen.

Und warum das alles? Weil wir den Tod aus unserem Leben ausgeklammert haben. Weil uns die Spaßgesellschasft vorgaugelt, es gebe kein Risiko. Das beginnt aber nicht mit Corona, sondern mit dem Moment unserer Zeugung. Weil der Rechtsstaat uns vorgaugelt, es gebe keine Ungerechtigkeit. Wenn ich eines in 56 Jahren gelernt habe: Die Welt ist zutiefst ungerecht und verlogen, weil wir Menschen es sind. Im Mittelmeer ertrinken seit Jahren Afrikaner, weltweit wird gestorben. Corona hätte bundesweit im schlimmsten Fall 100.000 zusätzliche Tote hervorgebracht. Im Straßenverkehr sind es jährlich gut 3100. Und: Täglich sterben 2500 Menschen nicht an Altersschwäche.

Zum Vergleich: An Hunger, Krieg, Umweltzerstörung, sexueller und materieller Begierde wird täglich weltweit hunderttausendfach gestorben. Wo ist dort das politische Handeln unserer Regierung? Unsere Solidarität und unsere Selbstbeschränkung? Wenn wir den Tod nicht wieder in unser Leben einladen, wird uns auch kein Mundschutz retten. Ich stelle meinen zur Verfügung, der mir am Mittwoch bei meiner 100. Blutspende zwangsverordnet wurde.

6 Comments

  1. Ralf Hokenmaier

    Leo, DANKE

    Das nächste Bier geht definitiv auf mich, und wenn ich dafür zu Dir laufen muss.

    1. Lieber Ralf,
      danke für die Blumen. Ich bin aber nicht käuflich.
      Zudem habe ich mich bislang zurückgehalten, weil ich weder von Reichsbürgern, AfD-Fans noch anderen Verwirrten Beifall möchte oder gar deren kruder Weltsicht Argumentationshilfe leisten. Die kriegen ja selbst kaum einen geraden Satz oder klaren Gedanken heraus und den Rest belegt dann deren Rechtschreibung, was meine These von den Bildungsverlierern belegt, sofern sie nicht wie Höcke Opportunisten sind oder wie Gauland bei der CDU nur dritte Wahl blieben…).
      Die Reise geht weiter, leo

  2. Tilman Kugler

    Lieber Leo,

    Deine Beiträge der letzten Wochen sind – auch in ihrer Widersprüchlichkeit – ein starkes, lebendiges „Corona-Tagebuch“.
    Das, was ich in Nachbarschaft, Familie, Stadtteil und Freundeskreis erlebe, spiegelt sich darin ungefähr wieder.
    Und in diesen Zeiten ist es ein richtiger Weg, Fragen zu stellen, und auch bei dem zu verweilen, was einen irritiert.
    Damit die Reise weiter geht, und nicht in alte Muster zurück führt…
    Danke

    Tilman

    1. Danke, Tilman, für Deine Zeilen.
      Das Empfinden, ich könnte meine Leser mit der Abfolge meiner Beiträge verwirren, hatte ich nur bedingt: Denn an Corona gefällt mir seit 16. März, dass der Konsum (und damit der Mißbrauch der Welt) zum Erliegen kommt. Es stört mich, dass Begegnungen (auch Gottesdienste, Beerdigungen, Männergruppen) kollektiv unterbunden werden. Ich bin erstens jederzeit bereit zu sterben und würde zweitens gerne ein Dokument hinterlegen, dass ich freiwillig auf ein Beatmungsgerät verzichte, wenn diese knapp sind. Denn ich bin bereit, die Verantwortung für mein Handeln zu tragen. So wie ich die Auswirkungen meines Konsums sehe und verantworten will. Gruß, leo

  3. Eva Becker

    Super Text, Leo. Danke für deine kritische und klare Stimme in diesen Zeiten. Alles Gute dir.

  4. Matthias Back

    Hallo Leo,
    voriges Jahr lernte ich dich kennen. Im Moment lernt man viele Menschen neu kennen, denn sie zeigen ihr wahres Gesicht.
    In Anlehnung an Deinen Text oben möchte ich hinzufügen: Abschiedlich Leben ist eine wunderbare Sache. Ich lebe heute und gebe mein Wissen gerne weiter. Was morgen ist, werden wir sehen.
    Vielen Dank für Deine klaren Worte, Matthias

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