Aktuell erlebe ich spannende Tage: Mein beruflicher Alltag ist binnen zehn Tagen nahezu komplett zum Erliegen gekommen. Vorträge, Gruppenangebote und Coachings sind entfallen; viele Recherchen finden aktuell nicht statt, weil die Führungskräfte, die ich dafür bräuchte, im Krisen-Modus agieren; und geplante Newsletter oder Kunden-Magazine werden aufgeschoben, weil sie aktualisiert werden müssen oder ganz auf deren Publikation verzichtet wird. Bekam ich anfangs täglich noch zehn Mails, in denen mir vor allem Absagen kommuniziert wurden, kommt jetzt nahezu nichts mehr. Auch keine Anrufe. Seit Dienstag habe ich statt dessen täglich vier bis sechs Stunden den knapp vierjährigen Sohn meines Agentur-Partners in Betreuung, weil dessen Kindergarten geschlossen hat und die Eltern auch noch einjährige Zwillinge haben.
Parallel ist mir bewusst geworden, dass Außenstände im fünfstelligen Bereich nun sicher nicht beglichen werden und auch mehr Februar-Rechnungen noch offen sind als üblich Mitte des Folgemonats. Die März-Rechnungen habe ich erst diese Woche verschickt. Mehrere Stunden habe ich diese Woche mit Kunden (alles Inhaber ihrer Firmen) und befreundeten Unternehmern telefoniert, teils um 6 teils um 22 Uhr. Sie alle waren und sind im Ausnahmezustand und wäre ich nicht Beteiligter und Betroffener, wäre es schlicht nur spannend, was da an Wissen, Überlegungen und Prognosen bei mir zusammengetragen wurde.
Dienstleister mit 250 oder 1000 Mitarbeitern, die für große Unternehmen und (Dax-)Konzerne arbeiten, erzählen, dass ihre Monteure nicht mehr in die Fabriken ihrer Kunden dürfen. Statt dessen saßen sie in der Firma und spielten Karten. Oder bei Aufträgen erfolgt seit Wochen nicht mehr die Endabnahme, so dass der Dienstleister seine Abschlussrechnung nicht stellen kann. Bei einem summiert sich allein diese Position auf knapp fünf Millionen, die ihm bei den Einnahmen fehlen. Ein anderer erzählt von einem großen Einzelhändler, der im Verdrängungswettbewerb mit billigen Krediten seit Jahren eine Expansionsstrategie gefahren hat und dessen Konsumtempel nun bundesweit alle geschlossen sind. O-Ton: „Wenn der nicht binnen Tagen von der Bundesregierung 50 Millionen Euro bekommt, ist der in ein, zwei Wochen weg.“
Ein anderer erzählt, Mitarbeiter murrten, dass sie bei Kurzarbeit nur 60 Prozent ihres Nettolohnes bekämen. Ihn irritiert, dass diese nicht sehen, dass er nur noch 15 Prozent Einnahmen hat und sehr viel Verantwortung auch für Gebäude, Maschinen und Waren trägt, was überall Kosten verursacht, und somit seine Leute doch glimpflich wegkämen. Seine Sorge, seine bis vorgestern begehrten Fachkräfte könnten nun zur Konkurrenz abwandern, konnte ich mit Fakten halbwegs zerstreuen. Ein anderer aus der Finanzierungsbranche baut nun in aller Eile ein Stornierungsmanagement auf. Schon jetzt überrollen ihn fast die Ankündigungen, man setze Zahlungen aus.
In derselben Eile treiben nun viele Firmen, Behörden und Universitäten ihre Digitalisierung voran, um handlungsfähig zu bleiben. Ihre externen IT-Dienstleister sind aktuell ebenso gefragt und überlastet, wie die WC-Papierhersteller. Und Wirtschaftsprüfer und Steuerberater sagen (mir), dass der Staat nicht das Personal und deren Verwaltungsbelegschaft nicht die Kultur habe, die von der Bundesregierung zugesagten Milliarden so schnell und unbürokratisch an die Firmen zu überweisen wie es öffentlich verkündet wurde und wird. Einer wörtlich: „In der letzten Krise 2008/09 haben viele das Geld erst bekommen als die Firma längst insolvent war und deren Strukturen bereits in Auflösung waren.“
Vor diesem Hintergrund habe ich meine eigene Situation diese Woche durchleuchtet: Einige unserer Kunden sind von der Krise nicht betroffen oder profitieren sogar davon, weil sie Pflegeheime betreiben oder im e-Learning und der Rechtsberatung (Insolvenz-, Arbeitsrecht etc.) tätig sind. Beim Steuerberater habe ich beantragt, sämtliche Steuervorauszahlungen für 2020 auszusetzen und für uns selbst Kurzarbeit zu prüfen oder zu beantragen. Auch gibt es wohl die Überlegung, dass der Staat kollektiv für zwei Monate sämtliche Lohnnebenkosen übernimmt. All das würde uns liquide halten. Schließlich schaute ich auf meinen Kontostand und in meinen Geldbeutel und suche aktuell einen Betrieb, der mich ab sofort als Erntehelfer brauchen kann. Ein Freund aus der Gastronomie meinte spontan, er komme dann dorthin mit.
Auch sagen etliche Unternehmer, man sei bislang aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen, weil es Mitbewerber härter getroffen und man selbst passgenauer und schneller reagiert habe. Das kann ich aus eigener Erfahrung mit Firmen 2001/02 (Zusammenbruch der New Econony) und 2008/09 (Bankenkrise) bestätigen. Teils haben Firmen dann geschwächte Mitbewerber übernommen oder aus der Insolvenz zugekauft und restrukturiert. Dazu passt, dass Vermögens- und Anlageberater jetzt schon Tipps geben, in den aktuell drastisch unterbewerteten Aktienmarkt zu investieren, weil der Anstieg so schnell verlaufen könne wie der Abstieg. Denn viele Konzerne kauften bereits jetzt günstig ihre eigenen Aktien oder seien gegen solche Abstürze versichert, so dass ihnen bislang kein Schaden entstanden sei. Und schließlich gebe es unendlich viel Liquidität, die bald wieder in Sachanlagen Rendite erzielen will. The show must go on.
Diese Sicht nährt meinen Optimismus, dass es nach der Krise weitergeht, zumal die deutsche Volkswirtschaft weltweit (noch) eine der stärksten ist, die auf jeden Fall irgendwie durchkommt. Ausbauen werden die Chinesen ihren Vorsprung, die als Diktatur ohnehin handlungsfähiger und schneller sind als wir (auch brutal). Was mir aber viel wichtiger ist: Meine Frau liebt mich und ich liebe sie. Immer noch. Und da ich seit 2012 in dritter Ehe verheiratet bin, weiß ich, wovon ich spreche. Auch erlebe ich im Alltag mehr Solidarität und Herzlichkeit denn Hamsterkäufer und aggressive Zeitgenossen. Ich bin mir sicher, dass wir aktuell als Gesellschaft Kulturtechniken reaktivieren, die wir noch dringend brauchen werden, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Und ich bin dankbar, für all die Bildung, die ich in meiner Biographie genossen habe und die ich aktuell mit jeder Menge Lektüre auffrischen kann, weil ich Zeit habe.
Ich habe schon während meines Studiums und nochmals nach meiner zweiten Scheidung über Jahre von 500 Mark bzw. Euro gelebt. Ich brauche zum Leben materiell nicht viel. Und in der Rückschau wird 2020 exzellente CO2-Werte haben. Auch das ist ein Erfolg. In Summe haben wir volle Kühlschränke und keinen Fliegeralarm wie unsere (Groß-)Eltern ihn hatten und noch heute viele Menschen in (Bürger-)Kriegsregionen. All das sind Privilegien. Und heute, am Namenstag des heiligen Benedikt, Begründer klösterlicher Orden vor 1500 Jahren, möchte ich ihn zitieren: In seiner Lebensbeschreibung wird er mit „habitare secum“, „wohnen in sich selbst“, zitiert. Das ist uns allen letztlich derzeit auferlegt. Nehmen wir diese Zumutung (darin steckt das Wort „Mut“) als Chance. Machen wir es so, dass wir uns in unserer Haut wohl fühlen. Das wünsche ich all meinen Lesern. Bleibt gesund und von Gott behütet.