Die Medien sind voll des Skandals um den Fake-Autor. Dass im Fast-Food-Journalismus aber vieles unreflektiert und beliebig ist, bleibt im Tagesgeschäft unbeachtet. FOTO: FROMM

Nun juckt es mich doch in den Fingern, mich auch noch zur Spiegel-Affäre um Autor Claas Relotius zu äußern. Doch nicht mit Häme oder Besserwisserei, sondern Mitgefühl für den Verlag und Verständnis für den Fake-Schreiber, der einmal mehr die Grenze des Vorstellbaren weiter verschoben hat. Selbst bin ich Jahrgang 1963 und als Volontär und Jung-Redakteur war ich schon im Zeitalter vor Internet & Co. um 1991/92 fasziniert von den Möglichkeiten, die mir mein Beruf bot – und die ich weidlich nutzte.

Wir wurden noch mit Glaubenssätzen ausgebildet, wonach egal ist, was der Leser von unseren Texten hält. Der habe ohnehin keine Ahnung, was guter Journalismus sei. Als wenige Jahre später das Internet aufkam, die Auflagen sanken und vor allem die Anzeigenbudgets, wurde der Wettbewerb um Relevanz härter. Ich erlebte, dass eine Vorgesetzte meine Texte „redigierte“ und Sachen hineinschrieb, die nicht belegt waren.

Ihre Reaktion auf meine Zweifel kamen wie messerscharfe Kritik an mir, die mich mundtot machte: „Dann haben Sie eben nicht richtig recherchiert.“ Oder sie erfand anonymisierte Zitate mit dem spekulativen Hinweis, der mich beruhigen sollte: „Hätten Sie lange genug Passanten gefragt, hätten Sie das auch zu hören bekommen.“ Ähnlich ging es mir gelegentlich mit der Grippewelle und anderen Ereignissen, bei denen tags darauf im Blatt stattfand, was wir in der Redaktionskonferenz diskutiert hatten. Auch, wenn die Fakten das nicht hergaben.

Oder wenn Passanten bei Straßenumfragen nicht mitmachen wollten und ich bei Minusgraden die Schnauze voll hatte, rief ich Bekannte an, die mir ihr Foto per Handy schickten und ihr Statement diktierten oder meinem Textvorschlag folgten. Das war alles grenzwertig und ist jetzt 20 Jahre her. Deshalb scheint mir der Schritt zu den erdachten Geschichten von Claas Relotius plausibel. Eine Gratwanderung, die hohes Ethos voraussetzt, war Journalismus nämlich schon immer.

Deshalb schien mir auch 2002 die Grenze albern und willkürlich, die Redakteure zu mir zogen, nur weil ich mich als Kommunikationsberater selbstständig gemacht hatte. Mein Ethos hatte ich nämlich mitgenommen, beibehalten und sogar geschärft. Gerade deshalb, weil ich dem Verdacht des Manipulativen ausgesetzt war. Viele Redaktions-Kollegen aber, die voller Projektionen waren und sind, durften und dürfen unbehelligt weitermachen und -spinnen.

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