Ein lesenswertes Buch: Industriedesigner Jürgen R. Schmid hat sein Manifest geschrieben. FOTO: FROMM

Mit „Standard ist tödlich“ gibt der renommierte Industriedesigner Jürgen R. Schmid nicht nur tiefe Einblicke in seine Denk- und Arbeitswelt, er seziert auch präzise und schonungslos unsere saturierte Gesellschaft und Marktwirtschaft. Seine Kernthese: Mittelmaß verhindert Kreativität und Standard beschneidet Individualität.

Schon in der Ästhetik der weiß-roten Optik und dem Aufbau der Struktur sticht das Buch aus der Fülle der Neuerscheinungen hervor und weckt Lust zur Lektüre. Die wird konsequent befriedigt, da der Autor stringent in drei Teilen (Kraftlosigkeit, Veränderungskraft, Vielfache Kraft) in 21 identisch aufgebauten Kapiteln auf 219 Seiten sehr durchdacht zu Papier bringt, was er zu sagen hat.

Das ist für kritische Zeitgenossen, die sich zudem mit Neurobiologie schon ein wenig befasst haben, nichts Neues, aber Schmid serviert das theoretische Wissen über das Gehirn unterlegt mit seinen Erfahrungen aus der eigenen Familie, mit seinen Mitarbeitern, Kunden oder seinen Beobachtungen im Fitness-Studio. Das wird kurzweilig und öfter entlarvend.

So strebe unser Gehirn immer nach Routine, um im Autopilot Energie zu sparen. Andererseits diene die Irritation dazu, das Gehirn zu stimulieren, weil es Neues schaffen will. Mit allgemein bekannten Beispielen aus Politik, Sport oder biblischen Gleichnissen beweist der vierfache Vater nicht nur seine Beobachtungsgabe und Allgemeinbildung, sondern stiftet beim Leser immer wieder Identifikation mit seinen Thesen.

Schmid lädt dazu ein, Experimente und Fehler zu machen, denn nur so weite sich unser Horizont. „Standard ist tödlich“ wirkt therapeutisch, weil der Appell des Autors zum Verzicht auf die Konvention das Selbstvertrauen stärke, aber auch Geduld und Hartnäckigkeit trainiere. Wer Schmid kennt, wie ich, weiß, dass der Autor aus viel leidvoller Erfahrung spricht.

Der 60-Jährige ist ein Grenzgänger und Provokateur, der mit „Standard ist tödlich“ sein Manifest verfasst hat: Wenn er teils verächtlich vom „Feldhasen-Prinzip“ oder dem „Schlafkreisel“ der Fische schreibt, lese ich zwischen den Zeilen seine Einsamkeit, die er immer und immer wieder erlebt haben muss, wenn er mit neuen Ideen auf Widerstand stieß.

Umso mehr scheint er heute sein Ziel erreicht zu haben, wenn er schreibt, ein Plan sei nicht dazu da, eingehalten zu werden, sondern diene zur Feinjustierung. Da schreibt sich keiner seinen Frust über die feigen Feldhasen von der Seele, sondern teilt sein in Jahrzehnten gesammeltes Erfahrungswissen mit Menschen, die nicht im Standard verblöden, sondern ihr Leben gestalten wollen.

Schmid gibt ihnen eine Orientierung an die Hand, wie sie als Individualisten bestehen, Freude haben und Sinn spüren können. Logisch, dass sein im Eigenverlag erschienenes Buch – wie bei Bestseller-Autor und Neurobiologe Gerald Hüther auch – mit einer Kritik an unserem Schul- und Bildungssystem endet: „Die Kinder werden systematisch auf Standard getrimmt, alles andere wird bestraft.“ Die Folgen sind Schul- und Leistungsverweigerer sowie ADHS-Kinder einerseits und feige „Mitschwimmer“ oder Karrieristen andererseits. Ein tolles Buch.

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