Zu Tränen gerührt hat mich in manchen Passagen das Buch „Kazim, wie schaffen wir das?“ von Sonja Hartwig, das im Wesentlichen die Sozialarbeit von Kazim Erdogan in Berlin-Neukölln mit Männern türkischer Abstammung beschreibt. Der Sozialarbeiter hat in dem Brennpunkt-Stadtteil seinerzeit gegen viele Widerstände und Vorurteile die erste türkische Männergruppe gegründet.
Mittlerweile Pensionär, brachte der „Süperman“ mit seiner Einfachheit seine Landsleute zum Reden über ihre Gefühle. Entsprechend stark ist im Buch die Passage, in der die Autorin beschreibt, wie der Psychologe den Männern Zettel und Stifte austeilt, damit sie aufschreiben sollten, was „ihre Ehre“ sei und ausmache.
Nach einer Stunde Selbstreflexion geben die Männer leere Blätter ab und der Leiter fasst ihre Sprachlosigkeit in Worte: Dass der Begriff „Ehre“ insbesondere in Verbindung mit „verletzte Ehre“ für sie eine Schutzbehauptung sei, hinter der sie all ihre Trauer, ihren Schmerz und ihre Ohnmacht verbergen.
Statt diese zu zeigen und auszudrücken, flüchteten sich viele in Gewalt, Rache und vermeintliche Ehrenmorde, zu denen sie meist noch von ihrem Umfeld und „der Schande“ getrieben würden. Auf 230 Seiten kommen viele Männer aus der Runde zu Wort, die über ihre Verletzungen durch die eigene Familie, deutsche Lehrer oder Arbeitskollegen und die ständige Stigmatisierung durch ihre Herkunft, ihre Gebräuche oder Namen berichten.
Wie heilsam Sprachfähigkeit ist, belegt ein Beispiel aus dem Buch: Nachdem ein Türke die Mutter seiner sechs Kinder getötet hatte und die Medien in typischer Empörungsmanier darüber berichtet hatten, lädt die Männergruppe zu einer Pressekonferenz ein, die deutsche Medienvertreter reichlich besuchen.
Nun schildern Männer ihre Biographie, ihre kulturelle Prägung, distanzieren sich von der Gewalttat und ermöglichen so ein differenziertes Bild. Hartwig, die Kazim wohl sechs Jahre begleitete, schreibt dann weiter, nachdem die Pressevertreter gegangen seien, hätten einige Männer, die mit auf dem Podium saßen, geweint. Der Grund: Sie hätten auch gerne etwas gesagt, aber ihr Deutsch war dafür zu schlecht.
Am nächsten Tag organisierte Kazim einen Sprachkurs für diese über 50-jährigen Männer, denn „geht nicht“ gibt es für den Vater zweier Töchter nicht. Mit derselben Energie lud er 2010 Thilo Sarrazin in seine Männer-Gruppe ein, der bis 2009 Finanzsenator der Stadt Berlin war. Den Bestseller des Sozialdemokraten „Deutschland schafft sich ab“ empfanden die Türken als einseitige Abrechnung mit den Migranten.
Das Buch gibt weite Passagen des kontroversen Diskussionsverlaufs mit Sarrazin wider und können meine Leser dort selbst nachlesen. Unbedingt möchte ich Kazim mit unserem internationalen Männernetzwerk MKP zusammenbringen, zumal wir auch in Berlin mindestens eine Männergruppe unterhalten und vereinzelt in unseren 50 Regionalgruppen auch Muslime dabei sind, die mir ähnliche Einblicke gewähren wie nun diese Lektüre. So mischen sich die Ethnien und neue Netzwerke entstehen.
Für mich ist Kazim ein Mutmacher wie Jesus, Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder Nelson Mandela. Zum Glück hat unsere Gesellschaft viele Kazims in vermutlich allen Kommunen Deutschlands (und der Türkei). Der gütige Mann zeigt nur besonders sichtbar, wie wir die Spaltung in unserer Gesellschaft überwinden und viele, viele Wunden heilen können – mit Kommunikation.