In den deutschen Medien war es gestern nur eine lapidare Meldung: Wegen Gleisabsenkung bei Rastatt, die sich am Samstag gegen 11.30 Uhr bei Tunnelarbeiten darunter ereignet hatte, ist der Zugverkehr auf der Rheintalschiene bis mindestens Samstag gesperrt. Tatsächlich waren davon aber tausende Reisende betroffen, die dadurch ein Abenteuer erlebten. Darunter auch ich, der ich auf der Rückkehr aus der Schweiz von einer Geburtstagsfeier in Fribourg war. Hier mein Erfahrungsbericht.
Noch in der Nacht auf Sonntag fahren wir wie geplant mit Verwandten von Fribourg nach Olten, wo wir bei diesen übernachten, um am Morgen den ICE von Interlaken nach Berlin um 11.30 Uhr zu besteigen, um diesen bis Karlsruhe zu benutzen. Auch die Digitalanzeige am Bahnhof zeigt den Zug so an und bis Basel verläuft alles regulär. Viele Sitze sind sogar als reserviert nach Norddeutschland ausgewiesen.
Die Odyssee beginnt, als der Zug wieder rollt und die Durchsage erfolgt, die Fahrt führe nach Interlaken. Unruhe bricht im Zug aus, während manche die Durchsage noch für ein Versehen halten. Als dutzende Reisende aufbegehren, werden die Schweizer unsicher, die tatsächlich Richtung Interlaken reisen wollen und fühlen sich erst bestätigt, als auch die Landschaft draußen eindeutig den Weg weist.
Nun erfolgt die Durchsage, Reisende Richtung Deutschland sollten am nächsten Halt aussteigen und die nächste S-Bahn zurück nach Basel nehmen. Auf dem Bahnsteig wird deutlich, dass rund 100 Personen diesem Irrtum aufgessenen sind und entsprechend überrascht sind die Einheimischen in der kurzen S-Bahn als wir alle, teils mit großen Reisekoffern und schweren Rucksäcken, die Tram entern, die an jeder Milchkanne zu halten scheint.
Bereits hier beginnen erste Solidarisierungsgespräche, wohin man müsse, woher man komme und was man schon alles auf Bahnreisen erlebt hat. Noch glauben alle, in Basel schlicht den nächsten Zug nehmen zu können und doch noch den Flug ab Frankfurt am späten Nachmittag oder die Ankunft am Abend in Berlin zu schaffen. Zurück in Basel spitzt sich die Lager aber zu: Alle Hinweistafeln informieren, dass die Rheintalstrecke bis 19.08. gesperrt sei und sämtliche Züge ausfallen. Alternativen werden nicht genannt.
Immerhin steht Servicepersonal in gelben Jacken bereit, das fragt, wohin mal will und erstmals die Ursache für das Chaos nennt. Der Mann vom Service, offenbar ein DB-Mitarbeiter, empfiehlt, die Regionalbahn nach Schaffhausen zu nehmen, was wir zusammen mit rund 70 weiteren Personen tun. Zwar warnt dessen Zugbegleiter, von dort komme man auch nicht nach Deutschland weiter, doch wir schenken dem ersten Mann mehr Glauben, zumal ein Schweizer in seinem Smartphone eine Verbindung über Winterthur googelt, die ginge.
Nun kommt wieder der Zugbegleiter mit der ultimativen Nachricht via Funk, Bahnreisende nach Deutschland sollten im nächsten Ort erneut aussteigen und die nächste Tram zurück nach Basel nehmen. Erste Reisende werden panisch oder aggressiv, andere wirken deeskalierend auf das Kollektiv ein. Bei der Bahninfo in Basel sind wir nun eine Gruppe von rund 30 Reisenden, die sich ab jetzt koordinieren.
Die Frauen und die meisten Männer bleiben beim Gepäck, während ein Mann aus Westfalen und ich uns am Serviceschalter kundig machen wollen. Dort muss man aber eine Nummer ziehen und sicher 25 Minuten warten, ob der Nachfrage, darunter auch viele Schweizer. Unter dessen „erarbeiten“ viele Jüngere an ihren Handys Alternativen, während die Älteren ihre Söhne oder Töchter in Bern oder Braunschweig anrufen, die nun via heimischem PC zu helfen versuchen.
Die ersten Rentner verlassen unsere Gruppe, um wieder an ihren Ausgangspunkt zurückzukehren, um bei Angehörigen in der Schweiz noch einmal zu übernachten. Andere sondieren Möglichkeiten, per Flugzeug „raus zu kommen“. Wieder andere werden per Auto abgeholt, buchen den Flixbus oder fahren per Anhalter. Wir buchen nun zu zehnt ein Großraum- und ein normales Taxi, um auf die deutsche Seite des Baseler Bahnhofs zu gelangen.
Dort treffen immer mehr Menschen ein. Im kleinen Shop werden Hamstereinkäufe getätigt, auf den Toiletten Wasserflaschen gefüllt und am Gleis, auf dem ein IC mit mächtig Verspätung erwartet wird, der uns bis nach Baden-Baden bringen soll, diskutieren entnervte Fahrgäste mit Zugbegleitern und Servicekräften über die „Unfähigkeit der Bahn“ und einiges mehr. Mir tun die Bediensteten leid, weil sie nichts für die Vorkommnisse können und sich den Kunden stellen.
Doch leider treffen sie nicht den richtigen Ton. Statt die Probleme zu bedauern, rechtfertigen sie ihren Arbeitgeber. Das ist zwar sympathisch und die Argumentation logisch, in diesem Kontext aber nicht hilfreich. Als ich unterstützend-moderierend eingreifen will, zieht mich meine Frau weg. Und weil auch sie am Limit ist, folge ich ihrem Wunsch. Umso mehr bin ich beeindruckt, wie vertraut wir nun in unserer Zehner-Clique beisammen stehen und uns gegenseitig unterhalten und aufmuntern.
Nun klärt sich für uns, dass ab Rastatt neun Busse die Reisenden aufnehmen und auf der Straße zum Bahnhof in Rastatt bringen, wo es dann per Bahn nach Karlsruhe weitergeht. Die Stimmung hellt sich auf, Kekse werden untereinander geteilt, ich organsiere ein Gruppenfoto und oute mich als Journalist, mein Münsteraner Freund informiert uns, wir dürften nun auch Erster Klasse fahren – was wir im Schutz der Gruppe dann auch tun.
In Baden-Baden löst sich unsere Gruppe auf, weil wir in unterschiedlichen Geschwindigkeiten mit der Masse zu den Bussen laufen. Hier steht nun alle paar Meter Personal, das die Richtung weist. Am Gleis trifft schließlich eine Regionalbahn ein, die rappelvoll mit Reisenden Richtung Freiburg ist. Viele Menschen lächeln sich nun zu, tragen sich gegenseitig Gepäck und vieles mehr. Die Atmosphäre ist weitgehend solidarisch und überall beginnen Fremde, miteinander zu sprechen.
Schließlich erreichen wir in der verbrauchten Waggonluft, in dem sich kein Fenster öffen lässt und alle Toiletten dauerbelegt sind, Karlsruhe. Die Menge schiebt sich auf den Bahnsteigen und wir treffen nochmals Mitreisende, von denen wir uns herzlich verabschieden. Schon hoffen wir, mit drei Stunden Verspätung zuhause anzukommen, als der IC, der uns nach Stuttgart bringen soll, auch nicht kommt.
Nach 20 Minuten Verspätung empfiehlt ein Uniformierter, die Regionalbahn gegenüber zu nehmen, was wieder hunderte tun. Als wir dort sitzen, sehen wir, dass der IC kommt. Zum Wechsel ist es nun zu spät und letztlich ist ohnehin alles egal. Hauptsache heute Nacht im eigenen Bett schlafen. In Vaihingen/Enz bleibt unsere überfüllte Regionalbahn, in der 80 Prozent aller WC defekt sind, länger stehen. Ich kombiniere: Wir wollen den IC passieren lassen, der auch hier hält.
Wir springen aus der Bahn, sehen den IC – und erreichen ihn. Viele Reisende machen diesen Transfer nicht mit. Wir ergattern den IC und nehmen in einem Sechser-Abteil Platz, in dem seit Mainz nur ein dehydriertes, älteres Ehepaar sitzt, das nach Walldürn möchte. Die Luft ist drückend, weil die Klimaanlage nicht geht. Egal, bis Stuttgart sind es 20 Minuten. Dort nehmen wir die nächste S-Bahn und sind kurz vor 20 Uhr zuhause.
Mein Fazit: Ich war den ganzen Tag froh, nicht als Flüchtling von Syrien (über das Mittelmeer) nach Schorndorf zu wollen, sondern nur von einem sicheren Land in ein anderes und das mit genügend Bargeld, Kreditkarte, Handy und deutschem Pass. Und: Ich bin beeindruckt, wie solidarisch sich vom Wohlstand privatisierte Deutsche verhalten, wenn es „eng wird“. Der gestrige Chaos-Tag macht mir Hoffnung für die Zukunft unseres Landes, das sich vermutlich auf noch mehr Komfortverlust einstellen muss.
Und: Da die Rastatter Ursache auf einen Tunnelbau für die Rheintalbahn zurückgeht, bin ich noch mehr verunsichert, ob der Machbarkeitsanspruch, den die S21-Befürworter immer wieder postulieren, gerechtfertigt ist. Mir wurde gestern deutlich: Ich gebe Planbarkeit und Verlässlichkeit den Vorzug vor Schnelligkeit und Komfort. Dankbar bin ich für die Erfahrungen, die ich gestern machen und die Einsichten, die ich gewinnen durfte.
Der Münsteraner, der mit Frau nach Arnsberg ins Sauerland musste, erreichte gegen 23.20 Uhr letztendlich sein Ziel nach drei weiteren, teils nervigen, aber immer stressigen und im Laufschritt mit zwei Koffern in der Hand. Ob die Menschen in der immer noch 7 Personen starken Gemeinschaft (Gruppe), die in Frankfurt am Main letztmalig einen ICE gemeinsam auswählten, noch die Ziele in Neuenrade oder Wernigerode überhaupt oder vor Mitternacht erreichten, bleibt leider unbekannt. Die Nerven blieben trotz freundlichem Bahnpersonal wegen Verspätungen und Angst vor Zugverpassungen auf hohem Niveau gespannt.
Lieber Herr Küsgen,
danke für Ihre ergänzende Schilderung. Mal schauen, ob wir uns wiedersehen. Beste Grüße, Leo Fromm
Nach einer stressfreien Weiterfahrt von Karlsruhe haben wir drei Sauerländer Frankfurt Hbf erreicht. Dank der Internetverbindung zu meinem Sohn und einem Slalom- und Hindernislauf auf dem Bahnsteig erreichte ich den Regionalzug nach Siegen in letzter Sekunde. Ich bat die Zugbegleiterin noch um einen Moment Zeit zur Abfahrt, weil noch Reisende mitfahren wollten.
Ich war nach „nur“ drei Stunden Verspätung glücklich in Werdohl gelandet. Eine Freundin holte mich vom Bahnhof ab und fuhr mich nach Neuenrade. Ich war glücklich zu Hause angekommen.
Liebe Frau Schmerbeck,
schön, nun auch Ihre Fortsetzung zu kennen. Es war mir eine Freude, die Zeit mit Ihnen zu verbringen. Beste Grüße, Leo Fromm
Guten Tag erstmal. Der Bericht macht atemlos beim Lesen. Hervorragend geschrieben. Bitte der DB Frankfurt
vorlegen. Hoffentlich wird dieses Geschehen endlich das unsägliche S21 ins Wanken bringen.
Dann hätte diese Odyssee noch was Gutes gebracht … Respekt vor dem gelassenen und mitmenschlichen Verhalten der Reisenden.
Liebe Frau Ritzal,
danke für Ihre wertschätzenden Zeilen. Ich werde in der Sache nichts weiter unternehmen, freue mich aber, wenn Sie meinen Link streuen – gerne auch Richtung DB AG. Herzliche Grüße, Leo Fromm