Analytisch präzise und unaufgeregt hat der Hamburger Sozialwissenschaftler und Publizist Sebastian Friedrich am Dienstag in der Schorndorfer Manufaktur über den Aufstieg der Rechten referiert. In seinem 85-minütigen Vortrag sezierte der freie Mitarbeiter der ARD-Panorama-Redaktion vor allem die Geschichte der AfD und deren Strömungen. Seit 2008 beobachtet der 49-Jährige, der in Halle/Saale geboren ist und mehrere Medienpreise erhalten hat, die rechte Szene.
Ursachen für den Aufstieg der Rechten sieht Friedrich in sechs Gründen: Um die Jahrtausendwende hätten sich die Konservativen in Modern-Urbane und in National-Ländliche aufgespalten. Diese Entwicklung ging mit einer wachsenden Demokratieverdrossenheit einher, die sich in sinkenden Wahlbeteiligungen und zunehmendem Populismus manifestierte. Der Referent: „Wir da unten und die da oben, war so ein Grundgefühl, das etwa die FPÖ in Österreich trefflich bediente.“
Drittens kam die „Krise des Kapitals“ hinzu, wonach etliche Volkswirte wie etwa die AfD-Gründer Hans Olaf Henkel oder Bernd Lucke Vorgaben der EU zur Wirtschafts- und Währungspolitik kritisch sahen und als Bedrohung des nicht Export-orientierten Mittelstands. Als weitere Punkte führt Friedrich die soziale Ungleichheit an, die seither wuchs, und die Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt, die mit der Globalisierung einhergingen. „Statt des Fahrstuhls nach oben für alle gewann die Rolltreppe nach unten an Bedeutung,“ so der Journalist, der als Stichworte Leiharbeit, Outsourcing und Standortverlagerung nennt.
Schließlich, Friedrichs sechster Punkt, kommt die „Krise der Linken“ hinzu, die keine gemeinsamen Antworten mehr hat. Signifikant stehe dafür die rot-grüne Bundesregierung zum Millennium unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD), die einerseits Migranten die Einbürgerung erleichterte, aber andererseits Industrien privatisierte und als Grundsicherung Hartz IV einführte. Der Referent: „Die Linke steckt seither in einer Hegemonie-Krise, weil das Alte stirbt und das Neue noch nicht greift.“ Hinzu komme der geopolitische Kampf der Systeme zwischen westlicher Demokratie unter Führung der USA und östlicher Diktatur unter Führung Chinas.
Innenpolitisch speist sich die AfD aus drei Strömungen, so der Sozialforscher: Die ordoliberalen Ökonomen, zu denen er Alice Weidel zählt; die Rechtskonservativen, zu denen ehemalige CDU-Mitglieder wie Alexander Gauland gehören; und die völkischen Nationalisten um Björn Höcke. Letztere verbinde eine ethnisch-kulturelle Identität, die sich 2015 in der Gründung des „Flügels“ manifestiert habe. Bis 2022 sei diese Strömung so angewachsen, dass gegen sie seither in der AfD keine Positionen mehr durchgesetzt werden könnten.
Um ihre Macht auszubauen, beharke die AfD vier Felder. Das sind die Parlamente mit der AfD als Partei. Daneben gehe es um die Köpfe bzw. das Denken, wofür die Rechte digitale und gedruckte Medien nutze, um die Grenzen des Denk-, Sag- und Machbaren auszuweiten. Wichtig in diesem intellektuellen Bereich seien der Verleger Götz Kubitschek und das Institut für Staatspolitik (IfS), das mit seiner Auflösung einem etwaigen Verbot zuvorkam. Dort werde das Bild vom „geistigen Bürgerkrieg“ genährt, der „den gesellschaftlichen Konsens stören“ und über „neue Staatsformen nachdenken“ wolle.
Drittes Feld ist gleichsam die Straße, auf der Bewegungen wie Pegida, die Identitären oder Burschenschaften Präsenz zeigen und teils politisch Andersdenkende oder anders Aussehende einschüchtern, bedrohen und attackieren. Viertes Handlungsfeld sind die Betriebe, so Friedrich. Seien es Verlage oder Tagungshäuser, die Rechte betreiben; seien es rechte Unternehmer, die pro forma Agitatoren bei sich beschäftigen oder die Gewerkschaft „Zentrum“, die als Gegenpol zum DGB oder der IGM deutsche Arbeiter für sich gewinnen möchte.
Als vierten Punkt, in den der Referent seine Analyse gliederte, nennt er die soziale Frage. 2016 sei die AfD unter Arbeitern und Arbeitslosen erstmals stärkste Kraft gewesen mit 30 Prozent. Im selben Jahr hätten die Engländer den Brexit gewählt und die US-Amerikaner Donald Trump. Vor allem die wenigen SPD-Politiker, die zur AfD wechselten, nutze die Partei als Indiz, dass längst sie die Interessen des „kleinen Mannes“ vertrete.
Im Kern verfolgt das Parteiprogramm zu Wirtschafts- und Steuerpolitik aber Positionen, die denen von Union oder FDP ähneln, nur noch viel radikaler sind. Was die Rechten dem „kleinen Mann“ zu bieten haben, formuliert Friedrich so: „Den Armen geht es unter einer AfD-geführten Regierung nicht besser, aber sie dürfen Teil des deutschen Volkes sein.“ Ihr Lohn sei die Zugehörigkeit, was er auch mit Studien von DGB und der Otto-Brunner-Stiftung belegt.
Friedrichs Blick in die Zukunft: Die AfD-Realos wollen mit Union und FDP koalieren, während die Fundis die CDU „zerstören und beerben“ möchten. In Frankreich, Österreich oder Italien, wo die Rechten schon etablierter sind, beobachtet der Referent aber eine Mäßigung in außenpolitischen Fragen und ein geostrategisches Bekenntnis zum Westen und der Demokratie. Seine Begründung: „Die Rechten brauchen die Akzeptanz des Establishments.“ Dies sei zuletzt der Grund für den Dissens der französischen Rechten mit der AfD gewesen.
Kurzfristig könne der Zuspruch für die AfD dadurch gestoppt werden, dass man apolitische Mitbürger mobilisiert, weil alle Umfragen ergäben, dass das Gros der Gesellschaft keine Radikalen wünsche. Mittelfristig müsse man den Rechten ihre Sympathisanten durch Dialog abwerben. Und langfristig solle die Gemeinschaft so gestaltet werden, dass sie keinen übersieht. Friedrich: „Es geht um Teilhabe, Selbstwirksamkeit und Solidarität.“