Sehr, sehr dankbar bin ich für die emotionale Gemeinschaftserfahrung, an Heiligabend um 17 Uhr auf dem Schorndorfer Marktplatz Weihnachten feiern zu dürfen. Zwar war es grottendunkel und es regnete in Strömen, als meine Frau und ich kurz zuvor das Haus verließen, so dass ich auf nur wenige Mitfeiernde vertraute, doch war mir/uns klar, dass diese halbe Stunde fester Bestandteil unseres Tagesablaufs sein sollte. Am Nebenhaus, wie tags zuvor besprochen, standen bereits die Nachbarn, bewehrt in dicken Jacken und unter großen Schirmen, so dass wir als Quartett anrückten.
War das eine Freude als wir auf dem Marktplatz wahrnahmen, dass mindestens 500 Mitbürger und -christen dieselbe Standhaftigkeit besaßen, so dass der Platz vor dem riesigen Christbaum der Stadt auf dem oberen Marktplatz mit Menschen übersät schien. Und über die vielen Schirme hinweg konnte ich auf einer kleinen Bühne Pfarrerin Dorothee Eisrich in einem weißen Gewand erspähen, der man einen großen Schirm hielt und auf die ein Scheinwerfer strahlte. Das Große Blasorchester der Stadt hatte sich zu ihrer Rechten aufgestellt und spielte zwischen den Impulsen der Theologin drei Weihnachtsklassiker zum Mitsingen.
Untermalt von einem e-Piano verlas ein Sprecher in zwei Abschnitten die Weihnachtsgeschichte von der Geburt Jesu im Stall von Bethlehem. Im Regen, nach monatelanger Zermürbnis durch die Pandemie und all die schlechten Nachrichten vom Krieg in Afghanistan, der Hungersnot und Dürre in Ostafrika, den Flüchtlingen an den Grenzen Europas, der fortschreitenden Umweltzerstörung samt Klimawandel und Artensterben, der Unterdrückung von Demokratiebewegungen in Hongkong, China oder Rußland und den Kriegsgefahren, die vom weißrussischen Diktator Lukaschenko ausgehen, war diese Menschenansammlung im Regen um den hell erleuchteten Christbaum wie ein Bekenntnis zu Solidarität mit und Liebe für allen Menschen und Mitlebewesen auf dieser Welt.
Und wie durch ein Wunder endete mittendrin der Regen, immer mehr Schirme wurden geschlossen und ich konnte einzelne Menschen, deren Konturen und ihre Gesichter erkennen. So war auch ein realistischer Blick auf die Zahl der gekommenen Menschen möglich, die Masken tragen sollten und sich an den Eingängen weitgehend registriert hatten. Dort waren Kerzen verteilt worden, deren Licht nun weitergegeben wurde, so dass der unwirtliche Platz in warmes Licht tauchte. Offenbar war auch Mitsingen erlaubt, was aber die wenigsten taten. Ich dagegen hätte wohl nun auch ein Verbot gebrochen, weil ich bei „Tochter Zion“ einfach mitjubilieren musste.
Und bei „Oh du fröhliche“ und bei „Stille Nacht“ liefen mir Schauer der Ehrfurcht vor dem göttlichen Geheiminis über den Rücken, ein Gefühl von Demut und Dankbarkeit – und von Hoffnung. Unter den Besuchern identifizierte ich etliche Bekannte sowie weitere Nachbarn. Diese 30 Minuten waren seit Beginn der Adventszeit meine erste spirituelle Erfahrung in dieser Saison und sie machten mir nochmals deutlich, wie viel abendländische Kultur und Substanz uns diese pandemiebedingten Präventionsmaßnahmen nehmen. Vielen, vielen Dank allen Akteuren, die mir und vielen anderen diese „heilige Nacht“ ermöglicht haben. Offenbar war es das letzte Jahr, in dem in Deutschland die Christen die Mehrheit bildeten, sagte mir ein Nachbar beim Nachhausegehen.