Wer eine öffentliche Abrechnung mit Vater Helmut Kohl erwartet hatte, wurde enttäuscht. Intim wurde der Tag dennoch, den am Samstag 50 Männer im Ludwigsburger Kulturzentrum mit Walter Kohl erlebt haben. Der ältere Sohn des Kanzlers der Einheit sprach über den Suizid seiner Mutter in seinem Bett, sein Trauma des RAF-Terrors und den Verrat vieler Menschen an ihm.
„Meine Schulakten oder die aus meiner Bundeswehrzeit wurden an die Presse verkauft und intime Details veröffentlicht,“ sagt Walter Kohl. Im Saal ist es mucksmäuschenstill. Offen und ehrlich deutet der Sohn von Altbundeskanzler Helmut Kohl die Vielzahl der Verletzungen an, denen er seit seiner Einschulung 1969 ausgesetzt war. Im selben Jahr wurde sein Vater Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz – und die gesamte Familie wurde ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt.
„Zur Hochzeit des RAF-Terrors haben mich Beamte des Bundeskriminalamtes mit geladenen Maschinenpistolen ins Gymnasium gefahren,“ deutet Kohl im Rahmen des Tagesseminars, in dem es um biographische Verletzungen geht, seinen Werdegang an. Und während die Beamten vor dem Schulgelände warteten, sei er mehrfach auf der Schultoilette von älteren Schülern zusammengeschlagen, mit dem Kopf in das Urinal oder die Toilette gedrückt oder von Lehrern schikaniert worden. Der Grund: „Ich war der Sohn vom Kohl.“
Auch in Fußballverein oder Tennisclub habe man ihn für die Politik seines Vaters verantwortlich gemacht, „bis ich da nicht mehr hinwollte.“ Zum Spielen kamen keine anderen Kinder zu ihm nach Hause, weil deren Müttern das zu gefährlich war. „Scharfschützen haben von meinem Kinderzimmer aus geschaut, aus welchem Einschußwinkel man mich töten kann,“ sagt der Referent. Gespielt habe er mit Polizisten. Experten hätten dem Elfjährigen Sprachcodes beigebracht, mit denen er im Fall einer Entführung hätte mitteilen können, dass er gefoltert wird oder er Züge fahren hört.
Die Folge: „Ich habe mich als wertlose Figur auf einem Schachbrett gefühlt, die jederzeit geopfert werden kann.“ Die Eltern hätten nur gemeint, das sei halt so, wenn der Vater Kanzler ist und überhaupt sei der Bombenterror im Zweiten Weltkrieg viel schlimmer gewesen. Seinen absoluten Tiefpunkt erreicht der Kanzlersohn als sich Mutter Hannelore am 5. Juli 2001 in seinem Kinderzimmer auf seinem Bett das Leben nimmt.
„Jahre habe ich darüber gegrübelt, welche Botschaft sie mir damit geben wollte,“ sagt Kohl mit gebrochener Stimme. Sein Schmerz ist im Raum spürbar, aber auch sein Ringen mit dem Leben – und seine Würde. Hier referiert keiner, der billig seinen Vater verbal hinrichtet. Im Gegenteil: Der prominente, dominante Vater ist kaum eine Erwähnung wert. Kohl hat Wichtigeres zu tun. Nämlich, sich zu versöhnen – mit dem Vater, der eigenen Geschichte und andere zu ermutigen, dasselbe zu tun.
Der Suizid der Mutter, auf den er mit einem Zusammenbruch reagiert, sei zugleich die Wende in seinem Leben gewesen. Hatte er sich zuvor als Volkswirt und Controller in internationalen Unternehmen nur mit Zahlen, Daten und Fakten befasst, entdeckt er nun seine Emotionalität. Er lässt seine Trauer und seinen Schmerz zu und arbeitet sein RAF-Trauma der Wert- und Sprachlosigkeit 2006 autodidaktisch auf.
2011 wird daraus sein erstes Buch, dem zwei weitere folgen. Heute arbeitet Kohl, der engen Kontakt zu seinem jüngeren Bruder Peter pflegt und in zweiter Ehe mit einer Südkoreanerin verheiratet ist, als Autor, Redner und Coach. In Ludwigsburg gab der zweifache Vater auf Einladung von VHS und katholischer Erwachsenenbildung das Seminar „Leben oder gelebt werden“, in dem es um Aussöhnung mit der eigenen Vergangenheit, Selbstliebe und den Weg zu innerer Freiheit geht. „Mein Vater hat sich für den Weltfrieden engagiert, ich kümmere mich um den inneren Frieden des Einzelnen mit sich,“ baut Kohl die Brücke zu seinem Vater.
Und aus dem Suizid der Mutter zog der Sohn die Mission, „mich für das Leben zu engagieren.“ Nachdem er in Frankfurt die Schirmherrschaft für einen Verein für Suizid-Prävention übernommen habe, seien Anfragen von Psychiatrien für Workshops gekommen. Und mit dem BKA erarbeitet der 55-Jährige Konzepte, wie Beamte mit Kindern und Jugendlichen umgehen, die Entführungsopfer wurden oder andere Gewalterfahrungen erlitten haben. Jüngst habe ein RAF-Mann im Zeugenschutzprogramm ihn um Verzeihung gebeten. Zum Abschied umarmten sich die Männer.