Zehn Männer sind wir, um an Christi Himmelfahrt und 79 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, an der innerdeutschen Ex-Grenze in Duderstadt eine Begehung zu machen. Diese Grenze hatte von 1945 bis 1989 martialisch unser Land und damit unsere Familien geteilt: Sperranlagen, meterhohe Zäune in mehreren Reihen und in unterschiedlicher Beschaffenheit, Wachtürme, Bunker, Hundezwinger und Beleuchtungsanlagen prägen das Areal, das von jeglicher Vegetation freigehalten wird, die Mensch oder Tier Schutz bieten würde, sich zu verstecken.
Gemeinsam sind wir zehn Geher seit dem Vortag Teilnehmer des 42. Bundesweiten Männertreffens, das dieses Jahr in der Jugendherberge von Duderstadt bis Sonntag stattfindet. Am Vormittag hatte Christian, Jg. 1963 wie ich, im Plenum diesen Workshop angeboten, um Männern den Raum zu eröffnen, sich mit dieser Vergangenheit auseinanderzusetzen bzw. zu konfrontieren.
Sein Vater war auf östlicher Seite in den 1930er Jahren zwölf Kilometer von dieser barbarischen Grenze geboren und diese Teilung habe ihre Familie förmlich geprägt und zerrissen. Mein Vater, 1919 geboren, stammt aus Gerbershausen, nur 2000 Meter hinter der Grenze, aber auch leider in der sowjetischen Besatzungszone gelegen. Gleich nebenan wohnt seit einigen Jahren der Jungnazi Björn Höcke, der seit Jahren versucht, uns Deutsche wieder aufzuhetzen und die AfD fett zu machen. Mein Vater, ein strammer Konservativer und Katholik wie fast alle im Eichsfeld, würde sich in seinem Grab herumdrehen, in das ihn seine fünf Kinder 2009 gelegt haben, ob dieses neuen Nachbarn in seiner Heimat.
Das Elternhaus meines Vaters lag in der 5-km-Todeszone, die die SED eingerichtet hatte, um diesen Streifen quer durch das Land zu entvölkern: Selbst DDR-Bürger durften dorthin nur mit Passierschein; nur wer innerhalb des Streifens heiratete, durfte dort wohnen bleiben (sonst musste er ins Landesinnere Richtung Osten ziehen) und wer in die DDR einreiste wie wir – ab 1973 war dies mit dem Auto erlaubt – musste diese 5000 Meter zügig passieren und wurde beim Austreten aus dem Streifen nochmals erfasst.
Am 1995 eingerichteten Grenzlandmuseum bilden also wir neun Männer mit Christian einen Kreis und jeder hat eine Minute, uns anderen zu erzählen, warum er hier dabei ist. Wir sind fast alle „grenzgeschädigte Wessis“, deren Väter „von drüben“ stammen. Uns verbinden dieselben Kindheitserinnerungen: Verwandtenbesuche bei Großeltern, Onkels und Tanten, Nichten und Neffen in diesem Käfig DDR. Die Erfahrung der Diktatur, die Repressionen, überall Uniformen, Passkontrollen, Bürokratie. Und insbesondere an der Grenze Schikanen, Verunsicherung, Kommandoton, Angst, Stacheldraht, Maschinenpistolen.
Es war für mich entlastend, hier die Erfahrung zu machen, dass ich nicht der einzige meiner Generation bin, neben meinen vier älteren Geschwistern, der das erlebt hat. Nein, wir sind und wir waren viele, vermutlich hunderttausende, die diese Geschichte geprägt hat, die in Wahrheit eine Wunde ist, die jeder von uns an und in sich trägt.
Da war an Christi Himmelfahrt aber noch mehr: Drei von uns zehn haben bis zur Wende in der DDR gelebt. Zwei von ihnen waren Soldaten der Nationalen Volksarmee (NVA) und haben diese Grenze „bewacht“ und an ihr patroulliert. Einer, Carsten, genau hier für sechs Monate. In Uniform, mit MP und „gemischten Gefühlen“. Auch die Soldaten hätten mit „Republikflucht“ geliebäugelt, sich gewundert, dass 20 Meter weiter hinter dem letzten Zaun der Raps genauso gelb blüte im „kapitalistischen Westen“ beim „Klassenfeind“.
Stimmt. Als Kinder hatten auch wir uns immer gefragt, wie die Vögel freiwillig in die DDR fliegen konnten. Jedenfalls erzählt Carsten, jedes Patroullien-Tandem, sei seitlich versetzt und täglich in wechselnder Formation gelaufen, um sich nicht absprechen zu können. „Ich hatte immer Angst, mein Kollege schießt mir gleich in den Rücken und flieht dann in den Westen,“ sagt Carsten, der nach der Wende zehn Jahre diesen Teil seiner Biographie verschweigt, weil er sich dafür schämt.
An Christi Himmelfahrt 2024 trägt er seinen Uniformgürtel mit der NVA-Koppel. Und ich sage ihm, mein Cousin Ulrich aus Leinefelde, Jg. 1955, hat diesen „Dienst“ auch versehen und meiner Mutter auf Nachfrage beim Verwandtenbesuch in den 1970er Jahren versichert, er hätte auch auf sie oder mich geschossen, wenn wir „illegal die Grenze übertreten“ hätten. Dafür sei er ausgebildet gewesen. Als Scharfschütze. Und ohnehin hätten auch andere dann geschossen, so dass uns seine Schonung nichts genützt hätte – ihm aber jede Menge Ärger eingebracht hätte – vom Terrorstaat.
Ja, das waren unsere Gespräche an Ostern, Weihnachten oder in den Sommerferien, wenn wir bei meinen Onkels waren per Bahn über Bebra oder per Pkw über Duderstadt. All das, noch vieles mehr und die Gerüche und Geräusche von Zweitaktern etc. waren plötzlich an Christi Himmelfahrt an dieser Grenze wieder da. Und ich war froh, auch wenn wir teils schweigend die Sperranlagen abgingen, dies in Gemeinschaft mit diesen neun Männern tun zu können, die mir für einige Stunden zu Brüdern wurden. So wird aus Teilung Heilung. Danke, Christian.