Empörungsreflex auf einen klugen Mahner: Tübingens OB Boris Palmer in der Kritik.

554 Milliarden Dollar haben laut Weltbank 270 Millionen Migranten 2019 an ihre Familien in der Heimat überwiesen. Dieses Geld brauchen die Empfänger meist für das Lebensnotwendigste: Essen, Wohnen, medizinische Versorgung, Bildung. Dieses Jahr würden diese Transferleistungen Corona-bedingt um ein Fünftel, also 110 Mrd. Dollar, sinken, warnt der Weltbank-Ökonom Dilip Ratha vor langfristigen Schäden (SPIEGEL 20/2020). Und Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) hebt seit Monaten die Folgen der Corona-Krise insbesondere für Afrika hervor: Das zaghafte Wirtschaftswachstum und der Aufbau von Strukturen dort würden zerstört, verursachten Elend für viele Millionen Menschen und lösten erneut Wanderungsbewegungen aus.

Ich möchte ja niemanden nerven. Aber ähnlich wie bei der Umweltzerstörung scheinen diese globalen Fakten nicht zu interessieren. Und beides wird dafür sorgen, dass bald noch mehr Flüchtlinge an Europas Grenzen drängen werden. In einer solchen Welt will ich nicht leben, auch wenn Söldner die Grenzen „hielten“. Vor diesem Hintergrund war ich dankbar für Boris‘ Palmers Hinweis auf diese globalen Folgen, befragt nach der Verhältnismäßigkeit der Corona-Regulierungen, die tief in die Freiheitsrechte der Bürger und das Wirtschaftsleben eingreifen. Der Tübinger Oberbürgermeister hatte im ZDF-Morgenmagazin letztlich das gesagt, was ich Tage zuvor (17. April) in meinem Blog bereits zu bedenken gegeben hatte: In dem wir das Leben Hochbetagter vermeintlich schützen, opfern wir viele andere Existenzen.

Die Fakten des globalen Elends sind bekannt: Nur hören will sie kaum jemand.

Meine Klickzahlen vervierfachten sich für mehrere Tage, was nur selten vorkommt, und ich bekam sehr viel Zuspruch. Dass Palmer eine solche Resonanz auslöste und deshalb ja auch für Medien interessant ist, liegt an den Tatsachen, dass er als OB ein öffentliches Amt ausübt und als Parteimitglied der Grünen selten deren Mainstream folgt. Inhatlich war ich bisher bei jedem Aufreger bei ihm und nicht bei seiner Partei. Und ich bin überrascht, dass dieses Empörungsritual immer noch funktioniert statt die Binnenpluralität zur Kenntnis zu nehmen. Köpfe und Personen sind einfach besser konsumierbar und bekämpfbar als komplexe Themen. Das gilt für Greta Thunberg ja leider auch: Nur weil das Mädchen seit Jahren unbeirrt auf unseren Klimatod hinweist, wird sie angefeindet und gehasst.

Statt uns aber über diese tiefen Muster unserer Psychologie von Verdrängung auszutauschen und bewusst zu werden, jagen wir eine Sau nach der anderen durch die Medien: Jetzt sind es die Schlachthöfe und deren Arbeitsbedingungen. Diese Profitcenter sind seit Jahren für ihre legalen Verbrechen bekannt. Aber jetzt, wo hunderte Sklavenarbeiter (alles legal!) Corona-infiziert sind, wird gehandelt. Oder letzte Woche der Aufschrei des Einzelhandels: Es werde zu wenig gekauft, die Masken trübten das Shopping-Feeling, Insolvenzen drohten. Ja, verdammte Scheiße, wer nichts Kaufbares braucht, sollte grundsätzlich nichts kaufen. Das wäre mal eine Evolution, die der Welt helfen würde. Statt Menschen zum Konsumieren zu manipulieren, sollten die Verkäufer als Sozialarbeiter fungieren.

Ich kenne etliche Besserverdiener, die nicht den (dritten) Porsche brauchen. In Wahrheit hassen sie ihre Auftraggeber, täuschen Service vor und wenn der Auftrag erfüllt ist, kaufen sie zur „Belohnung“ den Wagen – mit dem sie dann wieder sich und ihr Umfeld täuschen. Da arbeitet jede Prostituierte ehrlicher. Und wer weniger mächtig und kaufkräftig ist, macht das eben mit dem neuesten IPhone, Weber-Grill oder Urlaub. Toppverkäuferinnen in Stuttgarter Boutiquen haben mir schon vor Jahren erzählt, dass viele Frauen ab 45 ihre besten Kundinnen sind: Die Männer (meist gut bezahlte Ingenieure aus der Automobilindustrie) ständig bei der „Arbeit“, haben oft eine Geliebte und die alternde Ehefrau fühlt sich überflüssig,  leer und benutzt. Um sich zu spüren, geht sie dann shoppen: Schuhe, Taschen, Textilien.

Unsere Gesellschaft ist so krank und kaputt. Es wäre segensreich, wenn dank Corona möglichst viel von unserer Verlogenheit und unseren verkrüppelten Deals auf den Tisch käme. Was wir Menschen wirklich brauchen, sind Beziehungen, Kontakte, Wertschätzung, Respekt und Liebe. Übrigens alles Werte, die man nicht kaufen kann. Das ist die gute Nachricht: Glücklichsein geht ohne Geld. Dafür müssten wir aber die Strukturen wieder vom Kopf auf die Füße stellen. Die Tragik: Das Virus greift uns genau an dem Punkt an. Wir sollen Abstand halten! Keine Gemeinschaft erleben. Uns voneinander fernhalten. Das finde ich grausam.

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1 Comment

  1. Michel

    Leo, du hast so recht. Ich lese sehr gerne deine Bloggs, sie sind ehrlich, schonungslos und auf geniale Weise einfach und treffend formuliert. Es ist schön aber auch wichtig, dass du da bist.

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