Sechs je 50 Kilogramm schwere Boxen auf dem Kirchturm der Schorndorfer Stadtkirche haben an Ostersonntag um 10 Uhr für acht Minuten die Stadt und das Umland bis Plüderhausen beschallt. Aus den Boxen wurde live das Orgelspiel der Kirchenmusikerin und eines Trompeters aus der Kirche übertragen. Zuvor läuteten ab 10 Uhr sämtliche Kirchenglocken der Stadt ökumenisch die Auferstehung Jesu von den Toten und den Festtag ein. Die Idee und den Mut zu der städtischen Beschallung hatte Stadtpfarrerin Dorotheee Eisrich, die uns Bürgern damit „einen Kraftmoment in schwerer Zeit“ schenken wollte. Die Theologin, die meine Frau und mich schon 2012 getraut hatte, gilt als gleichermaßen kreativ wie politisch im Sinne von „Zeugnis ablegen für seinen Glauben.“
Das Corona-bedingte Versammlungsverbot hatte die Pfarrerin über Wochen beschäftigt, die dadurch nicht mundtot werden wollte. Schon in früheren Jahren hatte sie sich gegen Widerstände durchgesetzt, wenn sie bspw. Christmetten mit bis zu 2500 Besuchern nicht in der Stadtkirche, die 1000 Menschen fasst, sondern auf dem Marktplatz gefeiert hat. Oder wenn sie eine sich offen als Lesbe bekennende Pfarrerin in ihrem Gottesdienst predigen ließ. Auch die aktuelle Aktion, über die die lokalen Zeitungen in ihren heutigen Ausgaben prominent berichten, stieß offenbar auf überwältigend positive Resonanz.
Und tatsächlich eilte ich am Sonntag zu Beginn des fulminaten Geläuts, in das immer mehr Kirchenglocken einstimmten, auf den fußläufig sieben Minuten entfernten Marktplatz. Vorbei an Mitbürgern, die staunend, freudig und bewundernd dem Hörspiel an offenen Fenstern, auf Balkonen oder vom Garten aus lauschten. Überall rief man sich winkend „Frohe Ostern!“ zu und die Menschen schienen aus ihren Immobilien hervorzuquellen wie in den Tagen zuvor die Knospen und Blüten der Vegetation aus Büschen und Bäumen. Ein überwältigenderes und kraftvolleres Bild für Ostern hätte ich mir nicht vorstellen können.
Und während ich zu den orchestralen Klängen vom Kirchturm regelrecht zum Marktplatz schwebte, traf ich dort die nächste Überraschung an: Stets im Abstand von 1,5 bis zwei Metern standen dort Paare, Singles oder Familien wie über die gesamte Kopfsteinfläche gesät, schweigend mit Blick zum Kirchturm, auf dem die monströsen Boxen zu erkennen waren. Ein wohliger, sanfter Schauer von Ergriffenheit, Dankbarkeit und Verbundenheit lief mir in der Sonne unter strahlend blauem Himmel über den Rücken und all die Tage der Isolation und des Rückzugs schienen mir wie vergessen – und neue Menschen hervorgebracht zu haben.
Offenbar ging es vielen Schorndorfern ähnlich wie mir. Denn als die Musik bedauerlicherweise verklungen war, verharrten viele Zuhörer an ihren Plätzen und atmeten die so eben erlebte Atmosphäre in sich ein. Und viele verließen schweigend und gemäßigten Schrittes die Gemeinschaftsfläche. Auf dem Heimweg fielen mir mehrere Schriftzüge auf, wo Menschen in großen und bunten Lettern mit Kreide Sätze wie „Jesus lebt, Halleluja!“ oder „Frohe Ostern“ auf Straßen und Gehwege geschrieben hatten. Und zuhause schaltete ich mich der TV-Übertragung der Papstmesse aus dem nahezu menschenleeren Petersdom zu und war dankbar, trotz meiner Zweifel im Vorfeld „von Ostern“ nun so reich beschenkt worden zu sein.