Mehr als 60 Männer wollten diesen Freitag Christian Siegele im evangelischen Gemeindehaus von Weiler hören. Der gelernte Gärtner und studierte Sozialarbeiter, der Englisch, Arabisch und Suaheli spricht, hat bis 2013 sieben Jahre mit seiner Familie im Sudan gelebt. Der Vater dreier Töchter ist bei der christlich-freikirchlichen Organisation Coworkers beschäftigt, die Fachkräfte in Länder wie Syrien, Mosambik oder den Iran entsendet, die dort Projekt-bezogen drei bis sechs Jahre Einheimische zur Selbsthilfe befähigen.
Seit zehn Jahren lebt Siegele wieder in Weiler, bringt aber als Coach, Supervisor und Seelsorger der Hauptamtlichen in diesen Ländern rund die Hälfte des Jahres weiterhin dort vor Ort zu, um die Kollegen zu betreuen und zu unterstützen. Coworkers wird demnach staatlich gefördert und lebt stark von Spenden. Er selbst hatte seinerzeit als Sozialarbeiter zwei Straßenkinderheime im Sudan mit aufgebaut, also vor allem Erzieher befähigt, und nebenbei einheimische Grundschullehrer ausgebildet.
Zum Einstieg in seinen einstündigen Vortrag reflektierte der Referent den Begriff „Kultur“, der gleichsam die DNA sei, die man kennen und verstehen muss, will man in anderen Kulturen andocken. Das gelte gleichermaßen für Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, wie für Deutsche, die auf anderen Kontinenten arbeiten. So gebe es in jeder Kultur sichtbare Codes wie etwa Kleidung, Essen oder Rituale. Die machten aber nur gut zehn Prozent einer Kultur aus – der Rest liege darunter und müsse erlernt, erspürt und erfahren werden.
Dazu gehören demnach Religion, Erziehung, Kommunikation, Werte, Normen und Rollenbilder. Am Beispiel von Sprichwörtern aus vielen Kulturräumen machte Siegele diese Unterschiede hör- und spürbar. Grob gerastert gibt es demnach global zwei unterschiedliche Kulturräume: Die Schuld- und Sach-orientierte Welt, zu der Europa und Nordamerika gehören, und die Scham- und Beziehungs-orientierte Welt, zu der Asien und Afrika gehören.
Während also in unserem Kulturraum linear von Ziel und Ergebnis her gedacht wird, hat man anderenorts ein zirkulär-kollektivistisches Verständnis, das nicht den Einzelnen priorisiert, sondern die Gruppe. Das mache den Scham-orientierten Kulturraum so komplex und für rationale Gesellschaften schwer nachvollziehbar. Siegele: „Bei Scham geht es um die Ehre, bei Schuld nur um Rechtfertigung und Sühne.“ Deshalb sei in solchen Kulturräumen nicht entscheidend, ob jemand etwas getan hat (Fakten), sondern ob ihm das unterstellt wird (Ehre). Und mit der Entehrung kann er das Ansehen seiner ganzen Familie, Sippe oder des Dorfes beschädigen, weshalb er dann etwa die Gemeinschaft verlässt.
Im zweiten Teil ging der Referent auf konkrete Projekte ein. Weil bspw. die Chinesen in Mosambik die gesamten Regenwälder gerodet hätten, um das Teakholz zu exportieren, veröde das Land und auf den trockenen Böden gedeihe nichts. Deshalb ziehen die Menschen auf engsten Raum in Favelas in die Städte, wo sie noch schneller verelenden. Coworkers binde ganze Dorfgemeinschaften in seine Arbeit ein, um auch kulturell bedingt den Erfolg abzusichern. So starte man Modellprojekte stets parallel zum Bestehenden, z.B. neue Anbaumethoden. Dabei werde jedes Detail mit den Ältesten besprochen und in den Familien diskutiert, damit letztlich die Ehre aller gewahrt bleibt.
Siegele: „Die Parallelität braucht es, um teils jahrtausendealte Gewohnheiten sanft zu verändern.“ Seine Beispiele sind: Aussaat mit Planen abzudecken, um die Feuchte im Boden zu halten, weil „der nächste Regen, der jahrtausendelang kam“, eben nicht mehr kommt. Oder Überreste zu kompostieren statt zu verbrennen, um neue Nährstoffe für die Böden zu gewinnen, weil die üppige Vegetation von einst eben nicht mehr vorhanden ist. Anhand der guten Ernten und Erträge sähen dann die Einheimischen die Vorteile der Veränderung und übernähmen sie, ohne dass sie sich belehrt, bevormundet und übergangen fühlten.
Dasselbe gelte für Aufforstungsprojekte und Lagerhaltung. Dabei lernten die Einheimischen, „an übermorgen zu denken und Verantwortung für morgen zu übernehmen.“ Zugleich nähmen sie wahr, dass sie wirksam sind und etwas gestalten können. So hätten Menschen in abgelegenen Dörfern aus Materialien, die sie vor Ort haben, etwa Schulen gebaut, damit ihre Kinder etwas lernen und durch Bildung ihre Lebensgrundlagen verbessern.
An Beispielen aus Syrien oder dem Nordirak machte Siegele deutlich, warum so viele junge Männer die Flucht nach Europa antreten. Teils gehe der Militärdienst bis zu zehn Jahren und weil überall Krieg herrscht, sei dieser lebensgefährlich. Hinzu komme, dass die Regierungen Diktaturen und Unterdrückungssysteme sind, denen die Bürger nicht dienen wollen.
Angeleiteter Mannschaftssport sei in diesen Krisenländern deshalb so wichtig, um durch Gewalt traumatisierte Menschen wieder zu heilen. Denn im Krieg seien die Gegner Feinde, die man töten muss. Wer dies lange genug erlebt und verinnerlicht hat, sei auch in allen anderen Konflikten im Leben extrem aggressiv und zum Äußersten bereit. In Flüchtlingscamps im Nordirak etwa, wo Syrer, Afghanen, Jesiden, Kurden und Türken teils in Zeltstädten dicht gedrängt hausen, beschäftigt Coworkers seit vier Jahren einen Sportpädagogen.
Dessen Aufgabe: Seine Teilnehmer die Erfahrung machen lassen, dass das Team einen Gegner braucht, um spielen zu können. Dazu braucht es verbindliche Regeln für alle, Shake-hands, (Taktik-)Besprechungen und Feedback nach dem Spiel. Viele Fragen nach dem Vortrag belegten, dass der Referent die Herzen seiner Zuhörer erreicht hatte. Für mich kann ich sagen: Der Abend hat mir Hoffnung gemacht und neue Liebe für diese Welt geschenkt. Danke, Christian. Danke, Veranstalter.