Die Süddeutsche gibt mir immer wieder gute Inspirationen, so etwa in ihrer gestrigen Ausgabe, in der sie im Ressort „Wissen“ über „Whataboutismus“ schreibt. Bei der Lektüre wurde mir bewusst, dass mir das täglich mehrfach begegnet. So etwa, wenn ein CDU-Kommunalpolitiker im Pressegespräch aktuell sagt, man müsse „neben dem Klimaschutz auch den Wohlstand im Blick behalten.“
Oder wenn meine Schwester, eine Religionslehrerin, mir vorhält, dass ich keine Hoffnung mehr hätte, dass die Menschheit den Klimawandel noch stoppen kann. Mein Beispiel für meine Hoffnungslosigkeit war, dass sie mit bald 60 Jahren nach Israel flog, um sich einen Kindheits- und Jugendtraum zu erfüllen. Dabei ging es mir nicht darum, meiner geliebten Schwester eine solche Reise nicht persönlich zu gönnen. Sondern darum, mit dem ganz persönlichen Beispiel zu belegen, warum klimaschädliches Fliegen und anderer Massenkonsum nicht aufhören – und ich deshalb ohne Hoffnung für unser Überleben als Menschheit bin.
Denn als Dipl.-Theologe, der sich allein schon deshalb tief mit Judaistik und dem „gelobten Land“ befasst hat, war auch mein Impuls stets, dorthin mal eine Reise zu machen. Wenn ich das aber nicht irgendwann auf dem Landweg per Bahn mache, werde ich dorthin in diesem Leben wohl nicht mehr kommen. Denn in Anbetracht der Klimakatastrophe – und da teile ich die Einschätzung der „Letzten Generation“ – erfordern es meine Vernunft und der kategorische Imperativ, dass ich auf das Fliegen und vieles mehr, was mir auf Grund meiner finanziellen Ressourcen locker möglich wäre, verzichte.
Denn mit meinen materiellen Ressourcen geht es mir ähnlich. Ich halte diese nur bedingt für mein persönliches Verdienst, sondern mehr meiner Privilegierung als Mann und Deutscher geschuldet, der einem Bildungshaushalt entstammt und der biographisch noch immer auf Fleiß und materielle Bescheidenheit konditioniert ist.
Deshalb verstehe ich mein Einkommen und meinen Besitz eher als Werkzeuge, für deren Verwendung ich ebenso moralische Verantwortung trage. Hohen Konsum halte ich deshalb weniger für Selbstliebe als für mangelnde Selbstreflexion und für Kompensation, nämlich eines (falschen) Lebens, in dem sich jemand ständig für die Zwänge belohnen muss, denen er sich ausgesetzt fühlt. Und in dem ich all die Handlungsoptionen wahrnehme, spüre ich mich frei – und wirksam, was wiederum meiner psychischen Gesundheit guttut.
All das wurde mir bei der Lektüre des Whataboutismus-Beitrags in der Süddeutschen deutlich. Denn dort wird das zu meinem gegenteilige Verhalten als typisch menschlich beschrieben. Dass man nämlich nicht in die eigene Verantwortung geht, sondern jede kritische Anfrage mit einer Gegenfrage ins Belanglose laufen lässt. Zum Beispiel: Ich kritisiere, dass Du nicht mit der Bahn nach Berlin fährst, sondern fliegst. Und Du antwortest: „Na und, Du ist doch auch noch Fleisch?“
Das ist Whataboutismus: Er kritisiert, dass sie ihren Teebeutel in der Spüle liegen lässt. Und sie sagt nichts zur Sache, sondern kontert: „Und Du machst nie Deine Bartstoppeln im Waschbecken weg.“ So können Menschen trefflich streiten: US-Amerikaner verweisen die Deutschen auf ihre Verbrechen an den Juden im Dritten Reich und die Deutschen reagieren mit dem Hinweis auf das geraubte Land der Indigenen und deren Genozid in Nordamerika.
Vom Niveau her erinnert das an Siebenjährige, die sich beschimpfen. Sagt der eine: „Du bist blöd!“ Sagt die andere: „Selber blöd.“ SZ-Autorin Vera Schroeder bemüht sogar Jesus, der die untreue Frau vor ihrer Steinigung schützt, um zu belegen, dass dieses rhetorische Muster eine lange Tradition hat. Jesus sagt zu den empörten Pharisäern: „Wer selbst ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.“ Was in diesem Beispiel allerdings ein Menschenleben gerettet hat, führt bei uns zu weiterem Stillstand statt echter Begegnung mit dem anderen und seinem Anliegen. Wie traurig.